Geschütze Lehrstelle und geschützter Arbeitsplatz: Vor- und Nachteile des zweiten Arbeitsmarktes
Eine passende Stelle zu finden, die den eigenen Fähigkeiten entspricht und Freude bereitet, das ist ein schönes Ziel. Für Menschen mit Behinderungen oder chronischen Krankheiten kann der Eintritt in die Arbeitswelt aber durchaus eine Herausforderung darstellen. Geschützte Arbeitsplätze sollen hier Abhilfe schaffen. Klingt grossartig, oder vielleicht doch nicht?
Geschützte Arbeitsplätze werden in verschiedenen Branchen angeboten. So auch in der Gastronomie. (Andi Weiland | Gesellschaftsbilder.de )
Geschützte Lehrstellen und Arbeitsplätze sind speziell darauf ausgelegt, Menschen mit Behinderungen eine sichere und produktive Arbeitsumgebung zu bieten. Sie repräsentieren den sogenannten zweiten Arbeitsmarkt.
Hört sich so ganz sinnvoll an. Viele junge Menschen mit Behinderungen haben jedoch den Wunsch und auch die Fähigkeit, dort zu arbeiten, wo «alle anderen» tätig sind.
Das Problem: Berufsausbildungen, die nicht inklusiv gestaltet sind, führen oft dazu, dass junge Menschen mit Behinderungen später hauptsächlich im zweiten Arbeitsmarkt tätig sind. Sie finden oft nur schwer oder gar nicht wieder in den regulären Arbeitsmarkt (auch erster Arbeitsmarkt genannt) zurück. Sowohl die betroffene Person als auch die ganze Gesellschaft profitieren aber eigentlich davon, wenn Personen mit Behinderung im ersten Arbeitsmarkt tätig sind.
Wann also ist eine geschützte Lehrstelle oder ein geschützter Arbeitsplatz die richtige Wahl? Und wann ergibt es Sinn, sich um eine Stelle im ersten Arbeitsmarkt zu bemühen?
Was ist eine geschützte Lehrstelle?
Viele Kinder und Jugendliche träumen schon lange vor dem Eintritt ins Berufsleben davon, «was sie mal werden möchten». Nicht immer aber klappt es mit dem Traumjob.
Für Jugendliche mit Behinderung sollen geschützte Lehrstellen den Eintritt in die Arbeitswelt erleichtern. Eine geschützte Lehrstelle steht in der Regel allen zur Verfügung, die eine Teil- oder Vollrente der IV beziehen und die kognitiven und technischen Anforderungen des jeweiligen Berufs erfüllen können.
Heutzutage gibt es eine breite Palette an Berufen, die im Rahmen einer geschützten Ausbildung erlernt werden können. Beispiele hierfür sind Strassenbauer:in, Gleisbauer:in, Anlageführer:in, Mechaniker:in, Elektriker:in, Gärtner:in und verschiedene weitere Berufe beispielsweise in der Gastronomie, Textilpflege, Kinderbetreuung oder im Detailhandel. Hier erfahren Sie alles rund um die Lehre für Menschen mit Behinderung.
Der Irrtum der «IV-Lehre»
Der Begriff der «IV-Lehre» hält sich im Volksmund hartnäckig. Assoziiert werden damit oftmals geschützte Lehrstellen in Werkstätten oder Tagesstätten. Eine «IV-Lehre» gibt es in dem Sinne jedoch gar nicht. Vielmehr handelt es sich um eine von der IV unterstützte Lehre oder weitere Arten der Unterstützung durch die IV im Berufsalltag. Wie diese Unterstützung aussieht, ist jedoch sehr individuell.
Die Alternative: eine praktische Ausbildung mit Attest
Jugendliche, die keinen Zugang zu einem anerkannten Berufsabschluss (EBA, EFZ) haben, können eine praktische Ausbildung mit Attest (PrA) abschliessen. Die praktische Ausbildung nach INSOS ist ein niederschwelliges Berufsbildungsangebot und eignet sich insbesondere für Menschen mit Lernschwierigkeiten, die die technischen und kognitiven Anforderungen einer Lehrstelle nicht erfüllen, im praktischen Bereich jedoch stark sind.
Welche Unterstützung erhalten Jugendliche mit Behinderung in der Berufsfindung?
Die Fachleute der IV-Stellen begleiten die Jugendlichen schon während der Schulzeit und stehen Eltern und Kind beratend zur Seite. Erhalten Eltern für ihre Kinder IV-Beiträge, wird die IV-Berufsberatung automatisch eingebunden. In anderen Fällen macht die Lehrkraft auf die IV aufmerksam.
Später, während der geschützten Ausbildung, begleitet die Bezugsperson im Betrieb die Auszubildenden eng. Auch gibt es an der Berufsfachschule weitere Unterstützungsangebote in Form von Stützkursen oder durch eine individuelle Begleitung.
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Was ist ein geschützter Arbeitsplatz?
Häufig treten Absolvent:innen einer geschützten Ausbildung auch einen Job im zweiten Arbeitsmarkt an – an einem sogenannten geschützten Arbeitsplatz.
Ein geschützter Arbeitsplatz ist eine auf Menschen mit Behinderungen oder chronischen Krankheiten zugeschnittene Stelle. Solche Arbeitsplätze sollen Menschen mit Behinderungen den Zugang zum Arbeitsmarkt erleichtern und für soziale Teilhabe und Lebensqualität sorgen.
Typische Bereiche, in denen sich geschützte Arbeitsplätze befinden, umfassen die Gastronomie, Gartenpflege, Hauswirtschaft, Einzelhandel, Logistik, Textilarbeit und technische Dienstleistungen.
Der Mythos «Werkstätte»
Der Begriff «Werkstatt» ist recht veraltet und kann heute irreführend sein: Geschützte Arbeitsplätze sind nämlich überhaupt nicht nur in einer «Werkstatt», sondern zunehmend auch im Dienstleistungssektor zu finden.
Eine Stelle an einem geschützten Arbeitsplatz ist für alle zugänglich, die eine IV-Rente beziehen. Dies gilt unabhängig davon, ob in der Jugend eine geschützte Lehre absolviert wurde oder ob die Person später aufgrund eines Unfalls oder einer neu auftretenden Krankheit eingeschränkt arbeitsfähig ist.
Die tägliche Arbeit an einem geschützten Arbeitsplatz ist nämlich so angepasst, dass die eigenen Fähigkeiten voll eingesetzt werden können, um produktive Arbeit zu leisten. Die Anforderungen an Leistung und Produktivität sind jedoch geringer als im ersten Arbeitsmarkt. Entsprechend sind die Löhne niedriger und reichen leider häufig nicht gänzlich zum Leben aus. Viele Arbeitnehmer:innen beziehen daher weiterhin eine Voll- oder Teilrente der IV. Hier lesen Sie alles zur Arbeit an geschützten Arbeitsplätzen.
5 Gründe für eine Stelle im ersten Arbeitsmarkt
Obwohl der Weg zu einer Stelle im zweiten Arbeitsmarkt oft einfacher ist, kann es sich je nach individueller Situation lohnen, sich um einen Job im ersten Arbeitsmarkt zu bemühen.
Nicht nur Menschen mit Behinderungen profitieren davon, wenn alle Menschen, unabhängig von einer Behinderung, im gleichen Arbeitsmarkt tätig sind, sondern die gesamte Bevölkerung. Eine höhere Lebensqualität wird erreicht, wenn Barrieren abgebaut und eine diverse, gleichberechtigte Gesellschaft gefördert wird.
Hier sind fünf weitere Gründe:
- Inklusion: Der erste Arbeitsmarkt ermöglicht eine vollständige Integration und Inklusion in die Gesellschaft. Mitarbeitende können Teil vielfältiger Gruppen werden und neue Kontakte knüpfen. In Unternehmen fördert dies die Diversität innerhalb der Teams, was sowohl Kreativität als auch Problemlösungsfähigkeiten steigern kann.
- Berufliche Entwicklung: Der primäre Arbeitsmarkt bietet häufig mehr Möglichkeiten für berufliche Entwicklung und Aufstieg. In regulären Anstellungen können Mitarbeitende Schulungen und Weiterbildungen nutzen sowie Aufstiegschancen wahrnehmen, um ihre Fähigkeiten und Karriereaussichten zu verbessern.
- Finanzielle Unabhängigkeit: Obwohl Werkstätten subventioniert sind, ist der Lohn oft niedriger als im ersten Arbeitsmarkt. Arbeitsplätze im ersten Arbeitsmarkt bieten in der Regel wettbewerbsfähige Löhne und Leistungen. Dies ermöglicht den Mitarbeitenden, finanziell unabhängiger zu sein, steigert das Selbstwertgefühl und fördert eine grössere Autonomie.
- Soziale Anerkennung: Die Arbeit im ersten Arbeitsmarkt wird von der Gesellschaft oft höher bewertet, was zu einem besseren Gefühl von Wertschätzung und sozialer Anerkennung führen kann.
- Vielfalt und Herausforderungen: Der erste Arbeitsmarkt bietet eine Vielzahl von Arbeitsumgebungen und Herausforderungen. Diese ermöglichen es den Mitarbeitenden, neue Fähigkeiten zu erwerben und sich sowohl persönlich als auch beruflich weiterzuentwickeln.
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Was braucht es für eine Stelle im ersten Arbeitsmarkt?
Wie aber können sich Menschen mit Behinderung einen Arbeitsplatz im ersten Arbeitsmarkt ergattern?
Arbeitsmarktfähigkeit ist hierzu ein wichtiges Stichwort. Diese ist weder schwarz noch weiss: Jemand ist nicht arbeitsmarktfähig oder -unfähig. Auch ergibt sich die Arbeitsmarktfähigkeit aus unterschiedlichen Faktoren wie Gesundheit, sozialer, persönlicher und fachlicher Kompetenz und der individuellen Arbeitssituation am Markt. Das Zusammenspiel all dieser Kriterien ist schliesslich entscheidend, ob eine Person sich auf dem ersten Arbeitsmarkt ausreichend behaupten kann.
Vor allem braucht es viel Geduld und Willenskraft. Es kann schon mal 50 bis 100 Bewerbungen brauchen, bis man eine Stelle im ersten Arbeitsmarkt findet. Das entscheidende Motto lautet also: «Nicht aufgeben!»
Vielmehr liegt es aber auch an den Unternehmen, Inklusion und Chancengleichheit aktiv zu fördern und zu leben. Trotzdem können offizielle Beratungsstellen von Stiftungen und Organisationen wie zum Beispiel die Stiftung Profil, IPT, Pro Infirmis oder Joblife-Coaching eine grossartige Stütze im Bewerbungsprozess für eine Stelle im ersten Arbeitsmarkt liefern. Sie helfen unter anderem beim Wiederaufbau von Kompetenzen, bei der Einschätzung von Leistungspotenzialen oder bei der Vorbereitung und Jobsuche.
Übrigens: Ein Coaching kann auch nach Antritt einer Stelle sinnvoll sein. Viele Beratungsstellen stehen auch bei Herausforderungen im Arbeitsalltag beratend zur Seite.
Zweiter Arbeitsmarkt als Chance
Obwohl der erste Arbeitsmarkt viele Vorteile bietet, ist es wichtig zu erkennen, dass geschützte Arbeitsplätze für einige Menschen, abhängig von ihren individuellen Bedürfnissen, Fähigkeiten und Vorlieben, die beste Option sein können.
Es ist essenziell, dass jede Person die Möglichkeit hat, eine Arbeitsumgebung zu finden, die ihren Bedürfnissen und Zielen am besten gerecht wird. Denn Arbeit verleiht dem Leben Sinn und Struktur. Aus diesem Grund dient der zweite Arbeitsmarkt oft als Sicherheitsnetz für Personen, die aus verschiedenen Gründen nicht im ersten Arbeitsmarkt tätig sein können. Weitere Informationen sowie Unterstützungs- und Beratungsstellen zum Thema «Arbeiten mit Behinderung» finden Sie in unserem Artikel.