Ausbildung mit Lernbehinderung – was ist möglich?
Die bestmöglichen Chancen und einen reibungslosen Einstieg in die Berufswelt – das wünschen sich die meisten Eltern für ihr Kind. Wenn dieses allerdings eine Lernbehinderung oder -störung aufweist, ist die Berufswahl häufig von vielen Fragezeichen geprägt. «Welche Karrierewege stehen meinem Kind offen? Welche Unterstützungsangebote sind verfügbar?» Keine Sorge: Es gibt verschiedene Möglichkeiten, mit denen der Einstieg in die Arbeitswelt gelingt.
Bei Jugendlichen mit Lernbehinderung ist es wichtig bei der Berufswahl, die individuellen Stärken und Schwächen zu berücksichtigen. (pexels)
Die Chancen für Jugendliche mit Lernbehinderung
Jugendliche mit Lernbehinderungen haben grundsätzlich ähnliche Möglichkeiten wie ihre Altersgenossen. Für sie ist es allerdings umso wichtiger, ihre Stärken und Schwächen zu kennen und gut über ihre Behinderung Bescheid zu wissen. Sie müssen sich bewusst sein, welche äusseren Faktoren wie Druck oder Stress ihre Symptome verstärken und wie sie damit umgehen können. Das hilft, um mögliche Berufswege einzugrenzen.
Je nach individuellem Interesse und Stärken der Jugendlichen eignen sich Ausbildungen via Lehre, praktische Ausbildung (PrA) oder sogar der tertiäre Bildungsweg über eine Hochschule.
Was ist eine Lernbehinderung?
Der Begriff «Lernbehinderung» wird unterschiedlich definiert, ist jedoch meist ein Sammelbegriff für Lernleistungsprobleme. Aktivitäten wie Schreiben, Lesen, Verstehen, Rechnen und das Aneignen von Wissen allgemein ist für Betroffene erschwert. Daher haben Kinder mit Lernbehinderungen oft in vielen Schulfächern Schwierigkeiten, das Lerntempo mitzugehen. Die Ursache dieser Symptome ist in der Regel ein unterdurchschnittlicher IQ.
Im Gegensatz dazu stehen Lernstörungen wie Dyslexie, früher auch «Legasthenie» genannt. Die Symptome bei Lernstörungen sind teils ähnlich, sind aber nicht auf ein Intelligenzdefizit, sondern auf neurodiverse Ausprägungen zurückzuführen.
Dieser Artikel bezieht sich auf Kinder und Jugendliche mit Lernschwierigkeiten ganz allgemein – egal ob eine Lernbehinderung oder eine Lernstörung zugrunde liegt.
Die Lehre: die häufigste Wahl
Eine Ausbildung im Rahmen einer Lehre ist grundsätzlich hervorragend für Jugendliche mit Lernbehinderung geeignet. Sie ermöglicht es ihnen, wertvolle praktische Fähigkeiten und Erfahrungen zu sammeln und ihre Fähigkeiten in einem realen Arbeitsumfeld zu testen und zu verbessern. Dies stärkt ihr Selbstvertrauen und erhöht ihre Chancen auf eine erfolgreiche berufliche Zukunft.
Es gibt drei Möglichkeiten: sich direkt auf eine EBA- oder EFZ-Lehrstelle bewerben, eine geschützte Lehrstelle suchen oder allenfalls erst noch eine Vorlehre absolvieren.
EBA- oder EFZ-Lehre im ersten Arbeitsmarkt
Bei einer herkömmlichen Lehrstelle muss wie bei Jugendlichen ohne Behinderung abgewogen werden, ob die eigenen Fähigkeiten zum Wunschjob passen oder nicht. Hier helfen Lehrpersonen und Fachpersonen, eine reale Einschätzung abzugeben und verschiedene Möglichkeiten weiter einzugrenzen (lesen Sie dazu auch: EBA/EFZ: Gut zu wissen).
Wird eine IV-Rente bezogen, stehen dem Kind mit Lernbehinderung automatisch spezialisierte IV-Berufsberater:innen bei diesem Prozess zur Seite. Wenden Sie sich hierzu an die berufsbildende Person für Unterstützung.
Bei Menschen mit einer Behinderung ist die Arbeitsmarktfähigkeit ein wichtiger Aspekt, der beurteilt werden muss. Darunter fallen viele Kriterien wie Gesundheit, soziale, persönliche und fachliche Kompetenz der Jugendlichen sowie die jeweilige Arbeitssituation im Wunschberuf. All dies kann Berufschancen verbessern oder verschlechtern.
Trotzdem kann es auch bei idealen Bedingungen viel Geduld und Willenskraft erfordern, bis eine passende Stelle gefunden ist. Hier gilt: Nicht aufgeben! Manchmal braucht es mehr als 50 Bewerbungen, bis ein Lehrvertrag zustande kommt. Für Personen, die Mühe haben, eine Lehrstelle zu finden, könnte sich auch die Vorlehre eignen.
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Ist die erste Hürde genommen und treten Jugendliche mit Lernbehinderung ihre Lehrstelle an, haben sie weiterhin Anspruch auf zusätzliche Unterstützung: durch Berufsbildner:in und Berufsschule. So soll etwa die betriebliche Ausbildung an die spezifischen Fertigkeiten des Lehrlings angepasst werden. An der Berufsfachschule erhalten Jugendliche mit Lernbehinderung einen Nachteilsausgleich: Das Gesetz sieht vor, dass ihnen ermöglicht wird, gleichwertige Ausbildungs- und Prüfungsleistungen innerhalb einer verlängerten Bearbeitungszeit oder in anderer Form zu erbringen.
Ausserdem: Erkundigen Sie sich bei Ihrer Berufsfachschule, ob Stützkurse für Lernende mit Lern- und Leistungsschwierigkeiten angeboten werden. In diesen Kursen lernen die jungen Menschen, ihre Stärken auszunutzen und besser mit den eigenen Lernschwierigkeiten umzugehen.
Gibt es in der Nähe kein Angebot, wenden Sie sich an das kantonale Berufsbildungsamt. Wichtig: Bitte erwarten Sie nicht, dass sich die Symptomatik der Lernbehinderung durch Stützkurse wesentlich ändert – gerade wenn das Kind bereits jahrelang Therapie und heilpädagogische Unterstützung erhalten hat. Es muss abgewogen werden, welche Ziele mit dem Stützkurs realistischerweise erreicht werden können. Der Aufwand und der zu erwartende Nutzen sollten in einem angemessenen Verhältnis stehen.
Mit Vorlehre oder 10. Schuljahr ans Ziel
Wer eine Lehre absolvieren möchte, sich aber nicht für einen bestimmten Beruf entscheiden kann oder bisher keine Lehrstelle finden konnte, für den eignet sich allenfalls die Vorlehre als Einstieg.
Die Vorlehre dauert ein Jahr und besteht pro Woche aus drei Tagen praktischer Arbeit im Betrieb. An den anderen zwei Tagen absolvieren die Jugendlichen Unterricht an einer Berufsfachschule. Dort werden gezielt spezifische Stärken und Schwächen gefördert. So werden die Chancen auf dem Arbeitsmarkt und die Vorbereitung auf eine reguläre Berufsausbildung oder weiterführende Schule verbessert. Jugendliche mit Lernbehinderung brauchen häufig etwas mehr Zeit, um neue Informationen aufzunehmen. Insbesondere für sie kann die Vorlehre ein Sprungbrett zur erfolgreichen Bewerbung darstellen.
Wenn die Vorlehre für Sie oder Ihr Kind infrage kommt, informieren Sie sich am besten in Ihrem Kanton über Betriebe, die Vorlehren anbieten. Je nach individueller Situation kann übrigens auch ein 10. Schuljahr eine Option sein, insbesondere wenn Jugendliche noch nicht bereit sind für praktische Erfahrungen.
Geschützte Lehrstelle
Anpassungsschwierigkeiten von Jugendlichen, hohe Leistungsanforderungen der Branche oder ein Mangel an geeigneten Lehrstellen: Manchmal klappt es aufgrund unterschiedlichster Gründe mit der Stelle auf dem ersten Arbeitsmarkt nicht. Hier greifen geschützte Lehrstellen: Diese sind in der Regel für alle Jugendlichen und junge Erwachsenen zugänglich, die eine Teil- oder Vollrente von der IV erhalten. Diese Arbeitsplätze sind speziell auf Menschen mit Behinderungen und deren Fähigkeiten angepasst, um ihnen eine sichere und produktive Arbeitsumgebung zu bieten.
Heute gibt es viele Berufe, die in einer geschützten Ausbildung erlernt werden können. Dazu gehören Strassenbauer:in, Gleisbauer:in, Anlagenführer:in, Mechaniker:in, Elektriker:in, Gärtner:in und viele weitere in Bereichen wie Gastronomie, Textilpflege, Kinderbetreuung und Einzelhandel. In unserem Artikel finden Sie ausführlichere Informationen zu geschützten Lehrstellen und Arbeitsplätzen.
Praktische Ausbildung: die Alternative
Praktische Ausbildung (PrA) Schweiz ist eine national organisierte Berufsausbildung ohne Eintrittshürden. Sie richtet sich an junge Menschen mit Lernschwierigkeiten, die die Anforderungen für eine EBA- oder EFZ-Lehrstelle nicht erfüllen und keine geschützte Lehre machen möchten. Die praktische Ausbildung dauert zwei Jahre. Die Lernenden werden dabei individuell begleitet. Sie durchlaufen ein auf sie angepasstes Ausbildungsprogramm, welches wichtige Fähigkeiten vermittelt, die auf dem Arbeitsmarkt gefragt sind.
Nach der praktischen Ausbildung können die Absolventen entweder ihren erlernten Beruf auf dem Arbeitsmarkt ausüben oder eine Berufslehre mit EBA oder EFZ beginnen. Mehr Informationen hierzu finden Sie auf beim Branchenverband INSOS.
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Ist ein Universitätsstudium mit Lernbehinderung möglich?
Ein Studium mit einer Lernbehinderung ist definitiv eine Herausforderung, aber mit dem Zusammenspiel von individuellen Voraussetzungen und der richtigen Vorbereitungen möglich. Im Hochschulkontext gibt es keine enge, persönliche Begleitung wie in der Lehre, was zusätzliche Hürden für diejenigen mit Lernschwierigkeiten bedeuten kann.
Ausserdem könnte der hohe Zeitdruck, der oft mit Prüfungen und Abschlussarbeiten einhergeht, vorhandene Symptome verschlimmern. Jugendliche, die mit dem Gedanken spielen zu studieren, sollten sich der Herausforderungen bewusst sein. Sie brauchen gute Strategien, um mit den Herausforderungen auf diesem Weg gut umgehen zu können.
Für Menschen mit Lernstörung kann an vielen Universitäten und Hochschulen, zum Beispiel der ETH in Zürich, ein Nachteilsausgleich beantragt werden. Dadurch werden die spezifischen Schwierigkeiten der Studierenden im Unterricht und bei Prüfungen berücksichtigt. Häufig benötigt man dazu ein neuropsychologisches Gutachten einer Fachperson oder eine logopädische, entwicklungspädiatrische Abklärung.
Planen Sie auf alle Fälle vor dem Studium genügend Zeit ein, da es bei den Abklärungsstellen zu langen Wartezeiten kommen kann. Beachten Sie auch, dass bei der Abklärung einer Lernbehinderung oder Lernstörung im Erwachsenenalter Kosten entstehen können und nicht in allen Studiengänge in der Schweiz ein Nachteilsausgleich angeboten wird. (Beispielsweise wurde einer Waadtländerin gemäss einer Recherche vom Tagesanzeiger der Zeitzuschlag bei der Aufnahmeprüfung zum Medizinstudium verweigert. Klären Sie vorab mit der ausgewählten Institution, ob und in welcher Form Unterstützungsangebote bei Lernschwierigkeiten existieren.
So gelingt der Start in die Ausbildung
Die Berufswahl steht auf dem Stundenplan der Schweizer Schulen. Und wenn Sie für Ihr Kind IV-Beiträge beziehen, sind in diesen Prozess auch spezialisierte IV-Berufsberater:innen involviert.
Für einen gelungenen Start Ihres Kindes ins Berufsleben können Sie zusätzlich noch diese Tipps befolgen:
- Planen Sie genug Zeit ein. Suchen Sie das Gespräch mit Ihrem Kind frühzeitig: So in der 7. Klasse kann mit den Zukunftsüberlegungen begonnen werden. Seien Sie offen für alternative Bildungs- und Berufswege. Manchmal führen auch Umwege zum Ziel.
- Klären Sie frühzeitig die Möglichkeit nach Stützkursen ab. Grundsätzlich ist es auch möglich, einen Stützkurs bereits während des 10. Schuljahrs oder als Vorbereitungskurs (zum Beispiel während der Vorlehre) zu besuchen.
- Kommunizieren Sie transparent. Tritt Ihr Kind eine Lehre an, ist es sinnvoll, die Berufsfachschule über dessen Behinderung aufzuklären. Gleichzeitig eröffnet Ihnen das die Möglichkeit, Ihr Kind frühzeitig für den Stützkurs anzumelden.
- Nutzen Sie Unterstützungs- und Coachingangebote. Es gibt zahlreiche Anlaufstellen, die Bewerbungs- und Berufseinstiegshilfe anbieten. Unterstützung und Coaching gibt es zum Beispiel hier:
- https://www.berufsbildung.ch/download/mb204.pdf
- https://www.verband-dyslexie.ch/home.html
- https://www.gewa.ch/berufliche-eingliederung
- https://www.proinfirmis.ch
- https://www.joblife-coaching.ch/de - Motivieren Sie Ihr Kind, aktiv mitzuwirken und setzen Sie gemeinsam Ziele. Mit ausreichend Eigenengagement (und einem allfälligen Nachteilsausgleich) stehen die Chancen gut, dass Ihr Kind die angestrebte Karriere verfolgen kann, Abschlussprüfungen besteht und gut ausgerüstet in den Traumberuf startet.