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Menschen mit Behinderungen in der Politik – eine Notwendigkeit, die noch nicht selbstverständlich ist

Menschen mit Behinderungen sind heute kaum in der Politik vertreten und diejenigen, die sich politisch engagieren und ein politisches Amt anstreben, müssen sich verschiedenen Herausforderungen stellen. Im Rahmen des Forschungsprojektes «Disabled in Politics», der Universität Zürich, wurden Personen mit Behinderungen befragt und verschiedene Massnahmen zur Förderung der politischen Inklusion ausgearbeitet.

Bild des Nationalraatssaals mit leeren Stühlen. | © unsplash

Menschen mit Behinderungen sind kaum in der Politik vertreten. (unsplash)

Nicht jeder Mensch, der mit einer Behinderung lebt, strebt ein politisches Amt an. Denjenigen, die dies wollen, stellen sich jedoch weit mehr Herausforderungen und Hindernisse als ihren Kolleg:innen und Konkurrent:innen ohne Behinderung. Dies ist auch in der Schweiz immer noch der Fall, obwohl durch die Behindertenrechtskonvention der Vereinten Nationen (UNO-BRK) das Recht auf Nicht-Diskriminierung beim passiven Wahlrecht klar verankert ist (Art. 29). Es ist für eine funktionierende Demokratie ausserdem zentral, dass diejenigen, welche von politischen Entscheidungen betroffen sind, in den Entscheidungsprozess mit einbezogen werden. Teilweise geschieht das über Organisationen von und für Menschen mit Behinderungen und durch Lobbying. Unter dem Grundsatz der Inklusion ist unabdingbar, dass auf allen Ebenen des Staates, sowohl in Parlamenten als auch in Exekutiven, Menschen mit Behinderungen vertreten sind und ihre spezifische Erfahrung einbringen und ihre Forderungen direkt vertreten können. Dass diese Selbstvertretung selbstverständlich werden muss, entspricht im Grundsatz auch der Forderung der selbst betroffenen Personen, welche im Forschungsprojekt «Disabled in Politics» zu Hindernissen im Bereich Politik befragt wurden. Politisches Engagement und die Arbeit in einem politischen Amt stärken zudem das Selbstvertrauen und die gesellschaftliche Anerkennung – und zwar unabhängig davon, ob eine Behinderung besteht oder nicht.

Dieser Artikel zeigt auf, mit welchen Hindernissen Personen mit Behinderungen in der Politik zu rechnen haben, wenn sie ein politisches Amt anstreben. Er basiert auf den Ergebnissen der Untersuchung «Disabled in Politics», welche an der Universität Zürich von September 2019 bis November 2021 durchgeführt wurde. Dabei wurden 41 Personen aus allen Landesteilen zu ihren Erfahrungen beim Zugang zu politischen Ämtern befragt. Es wurden Personen mit körperlichen, psychischen und kognitiven Beeinträchtigungen befragt, ausserdem solche mit Hör- und Sehbeeinträchtigungen, mit Beeinträchtigungen aus dem Autismus-Spektrum und nach Hirnverletzung, einige davon Sprach- und Sprechbeeinträchtigungen. Die meisten der befragten Personen haben aktuell oder früher ein politisches Amt bekleidet, einige streben es an und einige sind auf dem Weg dorthin gescheitert. 

Politische Rechte in der Schweiz

Artikel 29 der UNO-BRK garantiert Menschen mit Behinderungen ihre politischen Rechte, gleichberechtigt mit allen anderen. Sie dürfen dabei nicht diskriminiert werden. Der Staat ist grundsätzlich verpflichtet, Förderungsmassnahmen zu unternehmen, um dieses Recht zu garantieren. Das betrifft sowohl das aktive als auch das passive Wahlrecht. Das aktive Wahlrecht ist das Recht, bei Abstimmungen und Wahlen seine Stimme abzugeben. Das passive Wahlrecht bedeutet, dass jemand sich für in ein bestimmtes politisches Amt zur Wahl stellen kann. Obwohl die UNO-BRK allen Menschen mit Behinderungen die politischen Rechte zuspricht, wird beispielsweise Menschen, die unter umfassender Beistandschaft stehen, aktuell in den meisten Kantonen das aktive und passive Wahlrecht entzogen. Diese Praxis wird jedoch zunehmend in Frage gestellt. Im Kanton Genf wurde diese Regelung im November 2020 durch die Stimmbevölkerung abgeschafft. Es bestehen ausserdem auf Gesetzesebene noch viele Lücken. So sind nur kantonale und kommunale Behörden verpflichtet, politische Veranstaltungen ohne Benachteiligung zugänglich zu machen, also barrierefrei zu gestalten. Private Organisationen, wie zum Beispiel politische Parteien, sind dazu jedoch nicht in gleichem Masse verpflichtet. Ausserdem ist der Zugang zu Assistenzleistungen für die politische Arbeit je nach Art der Beeinträchtigung nicht gleich gut gewährleistet. Dies sind nur einige der gesetzlichen Lücken in diesem Bereich, die heute bestehen.

Welche Hindernisse stellen sich beim Zugang zu einem politischen Amt?

Tatsächlich gibt es einige Personen mit Behinderungen in der Schweiz, welche ein politisches Amt bekleiden. Es handelt sich dabei um Ämter in Legislativen (Parlamenten) und Exekutiven (Regierungen), auf Gemeinde- Kantons- und Bundesebene. Andere haben verantwortungsvolle Positionen innerhalb ihrer Partei inne, oder sie engagieren sich ohne offizielles Mandat. Es ist also möglich, dass Menschen mit Behinderungen gute politische Arbeit leisten und in politische Gremien gewählt werden. Trotzdem zeigte sich aufgrund der Befragung von betroffenen Personen ein Bild, das noch zu wünschen übrig lässt und Hindernisse auf unterschiedlichen Ebenen zutage treten lässt. Es gibt es Hindernisse, die dem politischen System immanent sind. So können beispielsweise die Ausrichtung oder die Strategie einer Partei es Personen mit Behinderungen erleichtern oder erschweren, sich in ihrem Rahmen zu engagieren. Positive oder negative Einstellungen der Wahlbevölkerung und von Mandatsträger:innen gegenüber Menschen mit Behinderungen können den Zugang, je nachdem, erleichtern oder verunmöglichen. Aspekte, wie die Art der Beeinträchtigung, der Bildungshintergrund oder die berufliche Situation spielen eine Rolle und können ein politisches Mandat in Frage stellen. Finanzielle und rechtliche Bedingungen können den Zugang zur Politik erschweren. Ein wichtiger Bereich ist ausserdem die Barrierefreiheit. Damit ist einerseits die bauliche Barrierefreiheit gemeint, aber auch die Zugänglichkeit von Informationen für Menschen mit Hör- und Sehbeeinträchtigung sowie mit kognitiven Beeinträchtigungen. Oft wird die mangelnde institutionelle Unterstützung von Seiten der Parteien und Organisationen beklagt, sodass die betroffenen Personen mit Behinderungen auf private Unterstützung angewiesen oder auf sich selbst gestellt sind.

Wovon ist es abhängig, ob eine Person mit Behinderung sich dafür entscheidet, für ein politisches Amt zu kandidieren?

Wenn man sich für ein politisches Amt zur Verfügung stellen möchte, ist es von Vorteil, wenn man eine gute, möglichst akademische Ausbildung mitbringt und beruflich etabliert ist. Viele Menschen mit Behinderungen verfügen heute über diesen Hintergrund, der im Allgemeinen auch ihre finanzielle Situation beeinflusst. Der gleichberechtigte Zugang zu einer umfassenden Bildung, zu der auch eine grundlegende politische Bildung gehört, ist aber längst noch nicht selbstverständlich, wenn man mit Behinderungen lebt. Eine Voraussetzung dafür, überhaupt Interesse für die Politik zu entwickeln, ist die Zugänglichkeit von politischen Informationen. Dies ist vor allem für Menschen mit kognitiven Beeinträchtigungen, für gehörlose und zum Teil für blinde Menschen problematisch, da Versionen in Leichter Sprache und in Gebärdensprache noch oft fehlen. Man muss eine starke Motivation haben, wenn man sich für ein politisches Amt bewirbt. Die eigene Erfahrung von Behinderung und Benachteiligung kann dazu beitragen, diese Motivation zu entwickeln. Andererseits kann die Aussicht auf die Schwierigkeiten, die man als beeinträchtigte Person zu erwarten hat, auch demotivierend wirken.

Welche Faktoren spielen eine Rolle, wenn es um die Auswahl der Wahlkandidat:innen durch die Parteien geht?

Für alle Anwärter:innen spielt hier die Konkurrenzsituation eine Rolle, also die Frage, wie viele andere Personen sich zur Verfügung stellen. Für alle gilt, dass die Konkurrenz auf Gemeindeebene im Allgemeinen weniger gross ist als auf kantonaler und auf Bundesebene. Die Chancen, als Kandidat:in aufgestellt zu werden, sind also grösser. Dies gilt auch für Personen mit Behinderungen, allerdings mit folgender Einschränkung: Wenn durch die Lancierung einer Kandidatin, eines Kandidaten mit Behinderung hohe Zusatzkosten auf eine kleine Gemeindepartei (und, im Falle einer Wahl, auf die Gemeinde) zukommen, so verringern sich deren Chancen. Dies kann zum Beispiel wegen Zusatzkosten für Massnahmen der Barrierefreiheit der Fall sein, also für bauliche Massnahmen oder Gebärdendolmetschdienste. Auch negative Vorurteile im Sinne von  können bei diesem Schritt eine Rolle spielen, weil eine Person möglicherweise aufgrund ihrer Behinderung als nicht genügend kompetent für ein Amt eingeschätzt wird. Vielleicht wird eine Person mit Behinderung nicht als Kandidat:in akzeptiert, weil angenommen wird, dass sie wegen ihrer Behinderung nicht gewählt wird, oder weil man ihr unterstellt, sich ausschliesslich für behindertenpolitische Themen zu interessieren. Andererseits kann die Behinderung, je nach Ausrichtung und Strategie der Partei, auch einen Pluspunkt darstellen. Sie wird als Diversitätskriterium gesehen, oder sie unterstreicht die soziale Ausrichtung der Partei.

Welchen Einfluss hat die Behinderungssituation im Wahlkampf und im demokratischen Wahlprozess?

Der Kampf um die eigene Wahl stellt möglicherweise eine grosse Herausforderung dar, da man sich in dieser Zeit stark exponieren muss. In der Gesellschaft herrscht teilweise noch ein Bild von Menschen mit Behinderungen als bemitleidenswerte, schwache Wesen vor. Insbesondere Personen, die IV-Rente beziehen, werden teilweise so wahrgenommen, dass sie auf Kosten der Gesellschaft leben und man ihnen ein politisches Amt weder zutraut noch gönnen möchte. Solche Einstellungen haben zur Folge, dass einerseits Personen mit Behinderungen stark unter Druck sind, sich zu beweisen, und dass andererseits Personen, die von Renten profitieren, dies nicht offen kommunizieren können. Sie würden damit ihre Wahlchancen selbst untergraben. Dabei wäre ein politisches Amt für einige eine gute Möglichkeit, sich gesellschaftlich zu engagieren.

Wie stellt sich die Situation für gewählte Politiker:innen im politischen Amt dar?

Grundsätzlich werden die Bedürfnisse von Personen mit Behinderungen eher berücksichtigt, sobald sie gewählt sind und ein Amt antreten. Am meisten ins Gewicht fällt auf dieser Ebene, dass oftmals bei informellen Anlässen, wie Apéros oder Parlamentsausflügen, nicht auf Barrierefreiheit geachtet wird. Trotzdem kann man sagen, dass vielerorts immer wieder versucht wird, Schritte in diese Richtung zu unternehmen und Lösungen ad hoc zu finden, damit Menschen mit Behinderungen möglichst ungehindert politisch arbeiten können. Das zeigt sich klar anhand der erhöhten Hilfsbereitschaft von Parteikolleg:innen und anhand der Wertschätzung, welche Menschen mit Behinderungen für ihr politisches Engagement erhalten. Lücken bestehen noch auf rechtlicher Ebene, etwa im Bereich der Assistenz.

Menschen mit Behinderungen bilden eine sehr heterogene Gruppe

Die Bedürfnisse in Bezug auf Barrierefreiheit sind beispielsweise sehr unterschiedlich. Es ist naheliegend, dass es für einige einfacher ist, sich politisch zu engagieren. So werden die Fähigkeiten von Menschen mit Paraplegie im Allgemeinen weniger kritisch hinterfragt als diejenigen von Personen mit psychischen Beeinträchtigungen. Unwissen über die unterschiedlichen Facetten von Behinderung erschweren den Zugang für die Betroffenen und verhindern manchmal, dass sie wichtige politische Funktionen einnehmen können.

Was braucht es, um die Situation zu verändern?

Im Rahmen des Projekts «Disabled in Politics» wurden Empfehlungen dazu erarbeitet, was Parteien und Behörden, aber auch jede einzelne politisch aktive Person dazu beitragen kann, um die Situation von Menschen mit Behinderungen in der Politik zu verbessern. Zunächst sind das strukturelle Massnahmen auf rechtlicher und institutionell-organisatorischer Ebene, welche durch den Bund, die Kantone, die Parteien und Organisationen umgesetzt werden müssen und welche klare Regelungen bezüglich der Kostenübernahme für die einzelnen Massnahmen beinhalten müssen. Dazu braucht es Massnahmen zum Abbau von ableistischen Einstellungen auf allen Ebenen. Wichtig ist auch eine bessere Zugänglichkeit in der Politik, also den Abbau von Barrieren. Dies betrifft die bauliche Barrierefreiheit, den barrierefreien Zugang zu Information, eine barrierefreie Mobilität und besonders die selbstverständliche Berücksichtigung einer möglichst umfassenden Barrierefreiheit bei der Organisation sämtlicher politischer Veranstaltungen. Es braucht eine gute und nachhaltige Vernetzung von aktiven Politiker:innen mit (und ohne) Behinderung mit politisch interessierten Personen mit Behinderung. Dabei sollen besonders Gruppen berücksichtigt werden, welche in der Politik noch kaum vertreten sind, wie zum Beispiel Personen mit unsichtbaren Beeinträchtigungen, gehörlose Personen und Personen mit Sprach- und Sprechbeeinträchtigungen. Sinnvoll sind auch konkrete Unterstützungsangebote für Personen mit Behinderungen für das politische Engagement auf allen Stufen, je nach dem individuellen Bedürfnis. Zusammen mit Betroffenen könnte das Angebot eines Unterstützungs-Repertoire aufgebaut werden, welches ihnen in der Ausübung ihres passiven Wahlrechts Hilfen bietet. Die Hilfen sind im Sinne eines Nachteilsausgleichs zu verstehen. Solche Angebote könnten im Rahmen von spezialisierten Kompetenzzentren umgesetzt werden und sowohl einen unkomplizierten Zugang zu Assistenzleistungen als auch polit-spezifisches Coaching und Beratung umfassen und müssen für Personen mit Behinderungen grundsätzlich kostenlos sein. 

Als Beispiel eines solchen Angebots sei politinklusiv – politische Weiterbildung für Menschen mit Behinderungen von Pro Infirmis erwähnt, welches 2022 in allen Sprachregionen der Schweiz angeboten wird.

Wir danken Claudia Spiess, wissenschaftliche Assistentin an der  Universität Zürich (UZH), herzlich für den Fachartikel. «Disabled in Politics» ist ein Kooperationsprojekt zwischen dem Lehrstuhl Sonderpädagogik: Gesellschaft, Partizipation und Behinderung der UZH, dem Verein Tatkraft und dem Zentrum für Sozialrecht der Zürcher Hochschule für angewandte Wissenschaften ZHAW. Es wurde von 2019 bis 2021 realisiert. Die erarbeiteten Dokumente finden Sie hier.

Quellen

Hedderich, I. & Spiess, C. & Zanardini, M. & Fantoni, A. & Hocaoglu, M. & Conca, V. & Naguib, T. (2021): Forschungsbericht zum Projekt Disabled in Politics. Eine qualitative Untersuchung und eine juristische Beurteilung zur Situation von Politiker:innen mit Behinderung in der Schweiz. Universität Zürich.

https://behindertenpolitik.ch/disabled-in-politics/

https://www.edi.admin.ch/edi/de/home/fachstellen/ebgb/recht/international0/uebereinkommen-der-uno-ueber-die-rechte-von-menschen-mit-behinde.html

https://www.humanrights.ch/de/ueber-uns/politische-rechte-menschen-behinderungen

https://www.proinfirmis.ch/ueber-uns/politinklusiv.html
 


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