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«Wir möchten eine Stimme für Arbeitgeber:innen sein, die mit Assistenz leben»

Vor 10 Jahren wurde mit dem Assistenzbeitrag ein Modell geschaffen, das die Selbstbestimmung von Menschen mit Behinderungen stärkt und die Lebensqualität verbessert. Vom Assistenzbeitrag können alle Bezüger:innen einer Hilflosenentschädigung der IV profitieren, die auf eine regelmässige Hilfe angewiesen sind, aber dennoch selbstbestimmt leben möchten. Mit der Anstellung von persönlichen Assistent:innen nehmen Assistenznehmende allerdings auch eine neue Rolle als Arbeitgeber ein. Um ihnen eine Stimme zu geben, wurde am 2. Dezember 2020 der Verein InVIEdual gegründet.

Eine mobilitätseingeschränkte Frau bespricht sich mit ihrer persönlichen Assistentin am Bürotisch. | © pexels

Assistenznehmer:innen nehmen auch eine Rolle als Arbeitgeber ein. (pexels)

Die UNO Behindertenrechtskonvention (BRK) sieht vor, dass Menschen mit Behinderungen selbstbestimmt und eigenständig am gesellschaftlichen Leben teilhaben können. Diese Teilhabe wird in der Schweiz unter anderem mit dem Assistenzbeitrag ermöglicht. Aktuell leben über 3500 Menschen in der Schweiz mit Assistenz. Eine davon ist Simone Leuenberger. Als Expertin aus eigener Erfahrung hat sie letztes Jahr den Verein InVIEdual gegründet. InVIEdual ist der Arbeitgeberverband für alle Menschen, die mit Assistenz leben. Mehr über die Hintergründe und die Ziele von InVIEdual erfahren Sie im Gespräch mit Simone Leuenberger.

Vor einem Jahr wurde InVIEdual gegründet, warum? 

Ich habe festgestellt, dass wir Menschen mit Behinderungen, die mit Assistenz leben, noch immer nicht als Arbeitgeber wahrgenommen werden. Und dass uns viele Fragen rund um das Thema betreffen. Allerdings werden wir zu diesen Fragen nicht einbezogen. Dies geschieht natürlich nicht absichtlich, sondern schlicht deshalb, weil es im Verhältnis zur Gesamtbevölkerung der Schweiz, noch immer sehr wenige Menschen betrifft. Aber für diejenigen, die es betrifft, sind die Fragen sehr entscheidend, da es ihr Leben betrifft.

InVIEdual

InVIEdual vertritt als nationaler Arbeitgeberverband die Interessen von Menschen mit Behinderungen, die mit Assistenz leben. Als Expert:innen in eigener Sache bringt sich der Verband überall dort ein, wo es um Arbeitsverhältnisse und Arbeit von persönlicher Assistenz geht. Erfahren Sie mehr über den Verein oder werden Sie Mitglied.

Porträt von Simone Leuenberger | © Privataufnahme

Simone Leuenberger vom Verein InVIEdual.

Gab es einen konkreten Ausschlag für die Gründung?

In allen Kantonen gibt es einen Normalarbeitsvertrag für den Hausdienst, der auch für unsere Verträge gilt. Persönliche Assistent:innen werden in einem privaten Arbeitsverhältnis angestellt. Aufgrund des Problems mit Pendlermigrant:innen wurden die Arbeitsbedingungen neu geregelt und das Staatssekretariat für Wirtschaft SECO hat einen neuen Modell-Vertrag entwickelt. Diese neuen gesetzlichen Regelungen wären für alle Kantone gültig. Das Problem ist nun, dass die neuen Regelungen viele Bedingungen enthalten, die Assistenznehmende nicht einhalten können. Wie zum Beispiel die Höhe der Stundenlöhne bei Präsenzzeiten (nicht Aktivzeiten) oder die Bestimmung, dass von 23 bis 6 Uhr keine aktive Arbeitszeit sein darf. Diese Bestimmung widerspricht einem selbstbestimmten Leben, in dem ich selbst bestimmen möchte, wann ich ins Bett gehe und wann wieder aufstehe. 

Diese Problematik hat mir gezeigt, dass es eine Stelle braucht, die die Interessen der Arbeitgebenden, die mit Assistenz leben, vertritt und Teil der Sozialpartnerschaft ist.

Dafür setzt sich nun InVIEdual ein.

Ja genau. Wir möchten eine Stimme für Arbeitgeber:innen sein, die mit Assistenz leben und wir möchten immer dort einbezogen werden, wo es um Arbeitsbedingungen geht. Als Branchenverband vertreten wir die Interessen von Assistenznehmenden gegenüber dem Staat, den Sozialpartnern, der Politik und der Gesellschaft. 

Darüber hinaus setzen wir uns dafür ein, dass Menschen mit Behinderungen mit Assistenz selbstbestimmt leben können. So informieren wir auch laufend über Anpassungen beim Assistenzbeitrag – über unsere sozialen Medien oder via Newsletter. Ich sehe das als Dienstleistung von InVIEdual, die wir für die Menschen, die mit Assistenz leben, erbringen.

Welche Veränderungen wurden in eurem ersten Jahr angestossen?

Seit einem halben Jahr sind wir mit dem Bundesamt für Gesundheit (BAG) im Gespräch, sodass auch wir die Hygiene- und Quarantänebedingungen einhalten können. Die Regeln, wie sie aktuell gelten, haben zu grossen Unsicherheiten von unserer Seite geführt. Was dürfen wir noch und was nicht?

Natürlich ist es uns sehr wichtig, unsere Arbeitnehmer:innen zu schützen. Aber wie soll ich unter der Dusche eine Maske tragen? Für die Spitex wurden bereits eigene Bedingungen geschaffen. Hier hat es nun geholfen, dass wir als Branchenverband organisiert sind und diesbezüglich Anpassungen einfordern konnten. Das neue Papier wird in den kommenden Tagen veröffentlicht.

Was ist fürs 2022 geplant?

Nächstes Jahr feiern wir 10 Jahre Assistenzbeitrag. Hier möchten wir zusammen mit anderen Organisation darauf hinweisen, dass Selbstbestimmung und Inklusion nur möglich ist, wenn Menschen mit Behinderungen ihre Assistent:innen anstellen können und gemäss BRK auch Unterstützung in dem Bereich bekommen. Noch immer beantragen sehr wenige Menschen den Assistenzbeitrag.

Woran liegt es, dass noch immer so wenige Menschen mit Assistenz leben?

Da gibt es verschiedene Aspekte. Zum Ersten ist der Assistenzbeitrag, wie der Name sagt, nur ein Beitrag und keine Vollfinanzierung. Je nachdem ist es gar nicht möglich mit dem Assistenzbeitrag selbstbestimmt zu leben. Wenn man Glück hat, hat man ein soziales Umfeld, auf das man zählen kann. Wenn dieses aber nicht vorhanden ist, wird es schwierig.

Zum Zweiten müssen wir uns selbst informieren und Leistungen beantragen. Die IV kommt nicht auf Betroffene zu und macht das Angebot. Da es aber so viele Informationen gibt, ist es schwer sich zurechtzufinden und zu wissen, welche Leistungen man zugute hat und wie man vorgehen kann. Dazu kommt, dass es auch darauf ankommt, wie man über den Assistenzbeitrag informiert. Wird alles als kompliziert dargestellt, oder eher als gut machbar? Die Haltung der Beratungsstellen, des medizinischen Personals, aber auch des privaten Umfelds ist hier sehr entscheidend.

Und zum Dritten haben Institutionen in der Schweiz einen sehr hohen Stellenwert. Noch immer ist es oftmals scheinbar einfacher, eine Person in einer Institution unterzubringen, anstatt sein Leben selbst zu organisieren.

Was könnte dazu motivieren, sich für ein selbstbestimmtes Leben zu entscheiden? Welche Beobachtungen hast du gemacht?

Vorbilder und persönliche Erfahrungen helfen bei der Entscheidung selbst mit Assistenz zu leben. Auch kommt es auf den Leidensdruck an. Je mehr jemand bei tagtäglichen Verrichtungen auf Unterstützung angewiesen ist, desto grösser ist die Motivation das Assistenzmodell zu wählen. Wenn jemand noch viel selbst erledigen kann, ist der Leidensdruck nicht so gross.

Was ich aber sagen kann: Alle die den Schritt gewagt haben, möchten den Gewinn an Freiheit und an Selbstverständlichkeit nicht mehr missen.

Wo sind deiner Ansicht nach Anpassungen am Assistenzbeitrag notwendig?

Da gibt es noch so einiges. So gibt es noch immer Menschen mit Behinderungen, die ausgeschlossen sind, weil sie den Kriterien nicht entsprechen. Ausserdem sind die Stundensätze nicht sehr hoch, da damit auch noch Spesen, Berufsnebenkosten, etc. bezahlt werden müssen. Auch gibt noch immer die Beschränkung, dass man direkte Angehörige (also Eltern, Kinder oder Enkel) oder den oder die Partner:in nicht anstellen darf. Aber Mitbewohner:innen einer WG dürfen angestellt werden, genauso wie Geschwister.

Ganz generell geistern noch viele Unwahrheiten herum. So habe ich zum Beispiel letzthin die Frage gehört, ob man denn mit dem Assistenzbeitrag nicht die Hilflosenentschädigung verliere? Dem ist zum Glück nicht so! Deshalb sind Vernetzung und Aufklärung so wichtig.

Wir danken Simone Leuenberger für das spannende Gespräch.


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