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Familie: mein Geschwister hat eine Behinderung

Geschwister von Kindern mit Behinderungen sind in ihrem Alltag besonders herausgefordert. Die oftmals sehr schwierige Situation innerhalb der Familien birgt Risiken für das Kind ohne Behinderung – aber auch Chancen.

Famlie mit zwei Kindern, die auf dem Bett liegt | © pixabay

So gross die Freude auf das Geschwister im Vorfeld ist – vielfach wird es danach als Eindringling wahrgenommen (pixabay)

«Ja, wenn es schon ein angenehmer Anblick ist, zu sehen, dass Eltern ihren Kindern eine ununterbrochene Sorgfalt widmen, so hat es noch etwas Schöneres, wenn Geschwister Geschwistern das Gleiche leisten.» Dieses Zitat stammt von Johann Wolfgang von Goethe. Es beschreibt ein Verhältnis unter Geschwistern, wie es sein kann, oftmals auch ist, aber entgegen einer idealisierten Vorstellung nicht immer der Fall sein kann.

Beziehungen unter Geschwistern sind die dauerhaftesten überhaupt, aber sie sind auf bestimmte Weise und in verschiedenen Phasen des Lebens auch schwierig. Wo Nähe, Vertrauen und Beziehung ist, ist oftmals auch Rivalität, Eifersucht, im schlimmsten Fall Feindschaft.

Während es für die später Geborenen eher ein Privileg ist, mit Geschwistern aufzuwachsen und sie als Vorbilder zu haben, die sie prägen, empfinden Erstgeborene die kleinen Geschwister vielfach als Eindringlinge, als störend und als Konkurrenz um die Zuneigung und die Gunst der Eltern.

Verantwortung übernehmen

Ältere Geschwister werden von ihren Eltern oft dazu angehalten, für den jüngeren Nachwuchs eine Art Vorbildfunktion zu übernehmen. «Du bist älter, sei vernünftig.» «Mach deinem Bruder nicht solchen Unsinn vor.» «Sei ein Vorbild für deine Schwester», heisst es oftmals. Aber auch ohne diese Belehrungen übernehmen ältere Geschwister von sich aus Verantwortung für die Jüngeren und innerhalb der Familie, obwohl sich viele von ihnen nach der Geburt eines zweiten oder dritten Kindes an den Rand der Familiengemeinschaft gedrängt fühlen.

Ähnliche Mechanismen spielen sich bei Geschwistern eines Kindes mit einem Handicap ab. Vom Geschwisterteil ohne Behinderung ist Rücksichtnahme, Vernunft und Selbstständigkeit gefragt. Es soll die Schwester mit Behinderung oder den Bruder mit Behinderung unterstützen und begleiten. Verschiedene Studien, zum Beispiel von Dr. Waltraud Hackenberg, haben bereits vor 20 Jahren aufgezeigt, dass Geschwister chronisch kranker oder Kinder mit Behinderung zu sozial besonders kompetenten, lebenspraktischen, selbstbewussten Menschen heranwachsen können. Gleichzeitig sind sie jedoch auch gefährdet, sich schuldbeladen und zu kurz gekommen zu fühlen oder schlechte soziale Kontakte und verstärkt Schulprobleme zu haben.

Verschiedene Strategien

Die Journalistin Ilse Achilles, die selber Mutter eines Sohnes mit geistiger Behinderung und zweier Töchter ist, schreibt in einem Beitrag zum Thema «Die Situation der Geschwister behinderter Kinder», dazwischen gebe es Mischformen. Die Kinder entwickelten ganz unterschiedliche Strategien, um mit der Familiensituation zurecht zu kommen. Dazu gehörten: 

  • Loyalität: Das Kind ohne Behinderung kümmert sich umsichtig um seinen Geschwisterteil mit Behinderung, fühlt sich ihm sehr verbunden, ergreift seine Partei und verteidigt es. 
  • Distanzierung: Das Kind empfindet den Alltag mit dem Geschwister mit Behinderung so anstrengend und belastend, dass es sich äusserlich und innerlich von ihm abwendet. 
  • Soziales Engagement: Findet das Kind in seiner Hinwendung zum Geschwister mit Behinderung Lob und Anerkennung, entwickelt es über den Familienrahmen hinaus Hilfsbereitschaft und Verständnis für Schwächere. Als Erwachsene ergreifen diese Kinder häufig soziale Berufe. 
  • Idealisierung: Das Kind kann die Situation am besten ertragen, wenn es das Geschwister mit Behinderung als «jenseits von Gut und Böse» anschaut. Eventuelle Kränkungen und Zurücksetzungen sind so besser zu verkraften. Allerdings kann diese Haltung auch zur Selbstüberforderung und zu Schuldgefühlen führen, weil das Kind negative Gedanken nicht zulassen kann. 
  • Überangepasstheit: Das Kind erlebt die Familiensituation als so belastend, dass es von sich selbst möglichst wenig Aufhebens macht. Es ist folgsam und fürsorglich. Dieser Altruismus kann zu geringem Selbstwertgefühl und zu psychischen Problemen führen. 

Welchen Weg die Entwicklung der Kinder nimmt, hängt von verschiedenen Faktoren ab. Zu den wichtigsten gehören die Persönlichkeit der Eltern und ihre Beziehung zueinander, die Konstellation der Geschwister, die Schwere der Behinderung sowie die soziale Situation der Familie, schreibt Ilse Achilles dazu im Familienhandbuch des Staatsinstituts für Frühpädagogik IFB.

Die Persönlichkeit der Eltern und ihre Beziehung zueinander: Je positiver und lebensbejahender die Eltern mit der Krankheit/Behinderung umgehen, umso unbelasteter sind in der Regel die Kinder. Vermitteln Mutter und Vater aber: «Wir sind wirklich eine schwer vom Schicksal geschlagene, unglückliche Familie», so werden die Kinder auch so denken, nämlich: «Das Leben ist ungerecht zu uns, wir sind arm dran, wir kommen zu kurz.» Geben die Eltern ihren Kindern vor: «Wir packen das schon, auch wenn es schwer ist», so wachsen die Kinder mit diesem Mut machenden Beispiel heran und verkraften die Belastung besser.

Eltern, die ihr Kleinkind an den Händen halten | © pixabay Die Einstellung der Eltern zu der schwierigen Situation beeinflusst das Verhalten des gesunden Kindes. (pixabay)

Die Geschwisterkonstellation: Dazu gehören das Geschlecht und der Altersabstand der Geschwister. Die Geschwisterforschung zeigt, dass die Rivalität zwischen gleichgeschlechtlichen Geschwistern meist grösser ist als zwischen unterschiedlich geschlechtlichen. Daraus folgt: Eltern mit zwei oder mehr Töchtern oder Söhnen brauchen extra viel Geduld, denn es kann sein, dass ihre (gleichgeschlechtlichen) Kinder häufiger streiten und mehr miteinander rivalisieren.

Das heisst auch, ein Kind mit Behinderung oder chronischer Krankheit wird mehr Verständnis und Zuneigung von einem anders geschlechtlichen Geschwister bekommen, wobei Ausnahmen die Regel bestätigten. Keine klare Aussage lässt sich bezüglich des Altersabstandes zwischen den Geschwistern machen, da dies zu viele Faktoren beeinflussen. 
 
Die Schwere der Behinderung oder der Krankheit: Die Nachricht «Ihr Kind hat das Down-Syndrom» wird genauso wie die Diagnose «Krebs» oder «Mukoviszidose» eine Familie in tiefe Verzweiflung stürzen. Bei manchen entsteht nach dem ersten Schock aber Kampfgeist: «Das schaffen wir!». Bei anderen nimmt die Hoffnungslosigkeit zu. Interessant ist, dass es weniger auf die Schwere der Behinderung/Krankheit ankommt als auf die positive oder negative Einstellung dazu.
 
Die soziale Situation der Familie: Je höher das Einkommen, umso selbstverständlicher besorgt sich die Familie Unterstützung von aussen. In weniger begüterten Familien müssen alle Mitglieder mit anpacken, was einerseits zu mehr Reibereien, andererseits aber auch zu mehr Zusammengehörigkeitsgefühl führen kann. In grösseren Familien sind die Geschwister meist weniger belastet, weil sich die täglichen Aufgaben auf mehr Köpfe und Schultern verteilen. Aber oft ist gerade in grossen Familien das Geld knapp und der Wohnraum beengt.

Überforderung als eine der Hauptrisiken

Für ihr Buch «…und um mich kümmert sich keiner» hat Achilles ein Interview mit Dr. Waltraud Hackenberg geführt, von der die wichtigsten Studien zum Thema stammen. Als hauptsächliche Risiken für die Geschwister behinderter Kinder nennt Hackenberg unter anderem die Überforderung, da die Kinder sehr früh sehr selbständig werden und die Erwartungen ihrer Eltern erfüllen müssen und ihnen nicht zur Last fallen wollen. Eine andere grosse Gefahr sieht Hackenberg in der emotionalen Vernachlässigung der Kinder ohne Behinderung: «Die Kinder verhalten sich meist sehr angepasst. Sie tun, was man ihnen sagt. Sie ‹funktionieren› reibungslos. Die Eltern, die ja selbst stark belastet und überfordert sind, denken, alles ist in Ordnung, und erkennen nicht, dass dieses Verhalten auf Überangepasstheit beruht. Sie schauen deswegen nicht genau hin, erkennen Probleme, die ihre Kinder ohne Behinderung haben, oft gar nicht oder zu spät.» 
 
Im Familienhandbuch gibt Ilse Achilles Hinweise, die Eltern helfen können, bei all der Sorge um das Kind mit Behinderung oder chronischer Krankheit die Kinder ohne Behinderung oder ohne chronischer Krankheit nicht zu kurz kommen zu lassen:

  • Die Kinder nicht unterschätzen 
  • Mit den Kindern sprechen 
  • Auf die Kinder hören 
  • Rivalität zwischen den Kindern gestatten 
  • Nicht selbstlos sein 
  • Hilfe suchen 
  • Dem gesunden Kind ein eigenes Leben zugestehen

Chancen für das gesunde Geschwister

Natürlich reagiert jedes Kind anders auf die besondere Situation und verarbeitet diese unterschiedlich. Sehr viel hängt von einem emotional positiven Familienklima ab. Aber so mit Sorgen beladen sich das Thema auf den ersten Blick äussert – werden die Kinder nicht überfordert – können sie vom Aufwachsen mit einem Geschwister mit einer Behinderung auch profitieren. So besitzen sie oft eine ausgeprägte Sozialkompetenz sowie Sensibilität für andere schwächere Kinder. Sie zeigen eine grössere Sicherheit im Umgang mit Behinderungen und eine positive und offene Haltung gegenüber Menschen mit Behinderungen. 
 
Dies steigert ihr Selbstvertrauen und sie sind leichter fähig zu Selbstkritik. Kinder mit einem Geschwister mit Behinderung fallen ausserdem durch ihre frühe persönliche Reife auf, durch ein höheres Verantwortungsbewusstsein als Gleichaltrige. Ausserdem können sie ein gutes Konfliktverhalten und eine höhere Frustrationstoleranz aufweisen.


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