Steile Schulkarriere mit Behinderung
Nadine Breuer besitzt ein ansteckendes Lachen. Die 21-jährige hat im August ein Praktikum begonnen und strahlt: «Die Arbeit macht mir Riesenspass.» Parallel schliesst sie diesen Herbst ihre kaufmännische Lehre im Schulungs- und Wohnheim Rossfeld ab.
Gute Noten und Behinderungen schliessen sich nicht aus. (unsplash)
Das Schulungs- und Wohnheim Rossfeld gibt körperbehinderten Jugendlichen unter anderem die Möglichkeit, eine kaufmännische Ausbildung auf dem Niveau der Regelschule zu absolvieren. Die Lehrlinge finden alle Angebote «unter einem Dach», d.h. sie lernen, arbeiten und wohnen in der grosszügigen Anlage in der Berner Agglomeration. Yvonne Rappo ist Ausbildnerin im Rossfeld und hat Nadine auf dem Berufsweg begleitet. «Nadine ist ein äusserst fröhlicher Mensch», sagt Rappo, «und eine gute Lernende. Alles was sie macht, macht sie mit grosser Hingabe.» Sie stecke die Mitschülerinnen und Mitschüler oft mit ihrer guten Laune an. Tatsächlich legt Nadine oft einen Stopp ein, wenn sie mit dem Elektrorollstuhl zielbewusst durch die Gänge des Wohnheims saust, hinterlegt bei diesem ein Scherzwort und bei jener einen Ausbildungstipp.
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Wege zur Selbständigkeit
Nadine hat seit Geburt eine spinale Muskelatrophie. Bis sie 10-jährig ist, läuft das junge Mädchen noch mit Hilfe von Schienen, doch als die Muskeln dann schwächer werden, bewegt sie sich nur noch im Elektrorollstuhl fort. «Es war ein schwerer Moment, als ich realisierte, dass ich nie mehr laufen würde», erinnert sich Nadine. «In dieser Situation haben mir Gespräche mit meinen Eltern und meiner Schwester sehr geholfen.» Auch die engen Freunde seien viel mit ihr ausgegangen, um sie auf andere Gedanken zu bringen. Nadine kommt über diese Krise hinweg und beginnt ihre Energie in ihre schulische Ausbildung zu stecken. An der Heilpädagogischen Schule TSM in Basel, die sie bis zur Oberstufe besucht, glänzt sie durch gute Leistungen und wird für die weitere Laufbahn gefördert: «Ein Lehrer an der TSM hat mich motiviert, die Prüfung für die Fachmaturitätsschule zu machen.» Einige Freunde hätten ihr abgeraten, das sei doch wohl zu streng für sie. «Doch ich hab's bestanden», strahlt Nadine.
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Schnupperwoche im Rossfeld
Nadine könnte jetzt ihre Studienlaufbahn fortsetzen, doch inzwischen hat sich ihr Berufswunsch gefestigt. Sie möchte Sozialarbeiterin werden und dafür ist eine Berufslehre von grossem Vorteil. Eine Schnupperwoche im Rossfeld erleichtert ihr die Wahl.
« Das war eine Riesenmotivation für mein Leben. »
Rund 40 Lernende absolvieren im Rossfeld die vierjährige Ausbildung mit Eidgenössischem Lehrabschluss für Kaufleute E-Profil oder B-Profil. «Die kaufmännische Lehre im Rossfeld, bietet den Schülern die Möglichkeit, die theoretische Ausbildung in der Berufsschule und die praktische Ausbildung in unserem Lehrbetrieb zu absolvieren.», sagt Yvonne Rappo. Mit den drei Bereichen «Sekretariat», «Texterfassung», «Textverarbeitung» «Desktoppublishing» und «Treuhand» biete der Lehrbetrieb ein vielseitiges Ausbildungsangebot an. Den Auszubildenden steht ein Internat mit drei Wohngruppen zur Verfügung. Schliesslich rundet die Ergo- und Physiotherapie das ganzheitliche Angebot ab. «In der Physiotherapie habe ich ein gutes Körpergefühl entwickelt. Ich habe dort gelernt mich zu transferieren, das heisst mit Hilfe eines Rutschbetts vom Bett in den Rollstuhl zu gelangen», sagt Nadine Breuer. Unterstützung brauche sie nur beim Anziehen und beim Gang zum stillen Örtchen, schmunzelt Nadine.
« Ich habe sehr schnell einen guten Kontakt zu meinen künftigen Mitschülern und Lehrer aufgebaut und das schöne Ambiente hat mich zusätzlich begeistert. »
Soziale Kompetenzen erlernen
Neben Mathematik, Wirtschaftskunde, Buchhaltung oder Französisch, erlernen die Auszubildenden in der kaufmännischen Lehre auch Sozialkompetenzen. Dazu gehören Kommunikation, Methodenkompetenz und Selbständigkeit.
« Der grosse Vorteil dieser Ausbildung für mich ist, dass ich gelernt habe selbständiger zu leben. Für mich war es sehr wichtig von zu Hause wegzukommen, um eine Eltern mit der Pflege zu entlasten. »
Sie habe während der ganzen Lehrzeit im Wohnheim gelebt, was eigentlich nur im 1. Lehrjahr obligatorisch sei. Jetzt im Spätsommer ist Nadine's Tag sehr ausgefüllt. Schon um sieben Uhr morgens ist die junge Frau aus dem Bett und fährt nach dem Frühstück mit einem Transportbus zur Arbeit. «Bei der Firma Inotex bin ich die einzige Person mit Behinderung, die ein Praktikum absolviert. Ich arbeite in der Personalabteilung, wo das Aufgabengebiet sehr abwechslungsreich ist, d.h. ich prüfe Bewerbungen, erledige Korrespondenz und schreibe die Absagen an die Bewerber», sagt Nadine.
Realismus gepaart mit Optimismus
Pünktlich zum Mittagessen ist Nadine im Rossfeld zurück. Vom Nachmittag bis zum Abend ist Pauken für die Abschlussprüfung angesagt. «Klar bin ich etwas nervös vor den Prüfungen», sagt Nadine, «doch das kennt ja jeder Mensch.» Den Abend gestaltet Nadine ganz unterschiedlich, geht manchmal mit den Freunden auf ein Bier in die Stadt, singt bei der Bandprobe oder sinniert ein bisschen über ihre weitere Zukunft. So wie viele Sachen in ihrem Leben hat sie diese Frage mit viel Realismus und Optimismus überlegt und angepackt. Nach der Lehrzeit möchte Nadine im Rossfeld arbeiten, die Berufsmaturität beginnen und mit einer Freundin vom Heim eine Wohnung suchen. «Wir unterstützen die Pläne von Nadine vollumfänglich», sagt Yvonne Rappo, «sie macht sehr mutige Schritte in die Selbstständigkeit und wird ihr Leben mit ihrem eigenen Optimismus sehr gut bewältigen.»