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Sexuelle Dienstleistungen

Die käufliche Liebe ist für Menschen mit Behinderung ein vielschichtiges Thema, aber kein Tabu mehr. Ein Blick in die Welt von Freier:innen mit Behinderungen, bereitwilligen Prostituierten und Sexualbegleitenden.

Ein Herz in der Mitte von vielen Münzen.  | © pixabay

Sexuelle Dienstleistungen sind noch immer ein Tabu. (pixabay)

«Heidis Kuschelecke» liegt in einer der weniger vornehmen Gegenden des Berliner Bezirks Charlottenburg. Eingerahmt von Autowerkstätten und Garagenhöfen ist das obskure Flachbau-Objekt immer wieder Ziel von Telebussen, mit denen E-Rollstuhlfahrer wie Martin* verkehren, um hier ihre Begierde zu stillen. Denn die Kino-Bar in der Quedlinburger Strasse ist eines der wenigen weitgehend barrierefreien Etablissements in der Hauptstadt, und dafür wird mit dem Rolli-Symbol auf einer Tafel am Haus auch geworben. Zielstrebig steuert der stark spastisch gelähmte Martin mithilfe des Joysticks am E-Rolli auf den Eingang zu. Drinnen erwartet ihn ein spartanisch eingerichtetes Pornokino. Im fahl flackernden Licht der Leinwand sind zunächst nur die sauber drapierten Rollen mit weissen Haushaltstüchern auf den reihenweise angeordneten Sitzbänken zu erkennen. Irgendwann drängt sich den sich an die Dunkelheit gewöhnenden Augen eine mit Reizwäsche frisierte Gummipuppe in der Ecke auf.

Kuscheln im Zimmer

Mit den fünf oder sechs menschlichen Platzanweiserinnen, die hier heute ihre Arbeit verrichten, kann man sich aber auch zum Kuscheln in bequemere Zimmer zurückziehen. «Als ich den Laden übernommen habe, waren Eingang, Klo und Räumlichkeiten bereits barrierefrei erreichbar», berichtet Heidi Suhrbier, Inhaberin der «Kuschelecke».      

Immerhin etwa zehn Prozent der Freier, schätzt sie, haben ein Handicap, meist sind es Rollstuhlfahrer und Amputierte. Lifte oder Haltegriffe gibt es zwar nicht, aber Frauen, die neu anfangen, werden von Heidi, deren Schwiegersohn vor 20 Jahren an Muskelschwund starb, über die Bedürfnisse von behinderten Menschen aufgeklärt.   

«Ich stelle es den Mädchen frei, ob sie mit Behinderten intim werden wollen, denn einige können das nicht verkraften.» Für die meisten Frauen jedoch sind der sexuelle Kontakt ebenso wie Hilfestellungen beim Umsetzen aus dem Rolli und beim Ausziehen kein Problem. Weil das alles wesentlich länger dauert, drückt man bei Stammkunden wie Martin schon mal ein Auge zu, wenn die vereinbarte und bezahlte Zeit überschritten wird. «Krankenschwestern oder barmherzige Samariterinnen sind wir jedoch nicht», betont Heidi Suhrbier.

Entdecke deine Sexybilities

Martin ist in seiner Artikulationsfähigkeit stark eingeschränkt. Seinen ersten Besuch in der «Kuschelecke» hat deshalb Matthias Vernaldi für ihn telefonisch angekündigt und vorbereitet. Der 44-Jährige hat vor drei Jahren in Berlin die Initiative «Sexybilities» gegründet. Von seiner Ladenlokal-Wohnung in Neukölln aus berät er Menschen mit Behinderungen in Sexualfragen und vermittelt auch Kontakte zu Prostituierten. Matthias selbst ist von Muskelschwund betroffen. Unterhalb des Kopfes kann er nichts mehr bewegen, nichts ausser seinem Penis, denn der besteht aus gut durchbluteten Schwellkörpern, die allein durch ausschweifende Fantasien oder manuelle Stimulation auf Trab gebracht werden können. Doch Selbstbefriedigung ist für Matthias schon seit langem technisch nicht mehr möglich.   

«Ich hatte moralische Skrupel, sexuelle Dienstleistungen gegen Bezahlung zu akzeptieren und bin auch ein eher schüchterner Typ», gesteht der aus Thüringen stammende Theologe, der wegen seiner Behinderung in der DDR nicht Pfarrer werden durfte. Aber das ist eine andere Geschichte. «Sicher hatte ich auch die Erfahrung verinnerlicht, dass du als Krüppel keine grosse Nummer auf dem Sexmarkt bist. Die erste Begegnung mit einer Prostituierten verlief entsprechend enttäuschend. Doch dann stiess er bei einer «Handentspannung» für 15 Euro auf Julie*, die ihn seitdem regelmässig zu Hause besucht.

Sex vom Sozialamt

Durch das neue Prostitutionsgesetz in Deutschland und den Wegfall der Sittenwidrigkeit rückt auch eine andere Möglichkeit ins Blickfeld, die in Ländern wie Dänemark oder den Niederlanden schon existiert: Sex auf Krankenschein. Die Zuständigkeit dürfte hierzulande allerdings eher bei den Sozialämtern liegen, weil die Heilmittel-Richtlinien «Massnahmen, die ausschliesslich der Anreizung, Verstärkung und Befriedigung des Sexualtriebs dienen sollen», ausdrücklich nicht als Kassenleistung deklarieren. Weil Sexualität als menschliches Grundbedürfnis anerkannt wird, haben aber bereits einige Sozialämter Kostenübernahmen für sexuelle Dienstleistungen bewilligt, allerdings nur dann, wenn die Antragsteller alleinstehend waren und nachweisen konnten, dass sie nicht in der Lage sind, sexuelle Befriedigung auf anderem Wege zu erlangen. Für Matthias Vernaldi ist dieser Ansatz ein Irrweg und ein Rückschritt zugleich: «Sex vom Sozialamt würde in der öffentlichen Wahrnehmung den Blickwinkel auf Behinderte als Mängelwesen verstärken und die soeben überwundene geglaubte Therapeutisierung bis in die Intimsphäre hinein wieder ausweiten.»    


*Name geändert


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