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«Verabredung zum Kuscheln»: Meine Erfahrungen mit Sexualbegleitung

Für Menschen mit Behinderungen ist es noch immer schwierig, ihre Sexualität nach ihren Wünschen auszuleben. Auch Andrea*, eine junge Frau mit körperlichen Behinderungen, hat das erleben müssen. Wie ihr eine Sexualbegleitung geholfen hat, erzählt sie offen in ihrem Erfahrungsbericht.

Nahaufnahme von zwei Personen, die gemeinsam auf einem Bett liegen und sich gegenseitig am Bein berühren. | © pexels

Durch die Erfahrung mit Sexualbegleitung hat Andrea gelernt, ihre Bedürfnisse besser auszudrücken. (pexels)

Kuscheln, Intimität oder Sexualität haben in meinem Leben nie eine Rolle gespielt. Von klein auf wurden uns die Maximen «der weibliche Körper ist schmutzig und abstossend», «nur Schwächlinge brauchen Liebe und Geborgenheit» oder «Behinderte haben keine Sexualität» eingedrillt. War das bei euch auch so?

Diese Glaubenssätze hatte ich als selbstverständliche Wahrheit in mein Selbstbild eingebaut. So sehr, dass ich die Sehnsucht nach Nähe nicht mal mehr mir selbst eingestehen konnte. Stattdessen habe ich mich für meine Bedürfnisse verachtet und verzweifelt versucht, die schmerzhafte Leere in meiner Seele mit Keksen zu füllen. Bis ich den Wunsch nach Nähe vor einem Jahr auf einmal nicht mehr «verleugnen» wollte. Allerdings ist in meinem aktuellen Wohnheim jegliche Art von Besuch, Körperkontakt und Partnerschaft strengstens verboten. Irgendwie war die Sehnsucht nach einer Umarmung jedoch so gross, dass ich alle Vorsicht in den Wind geschlagen habe. Vielleicht konnte ich auch einfach keine Kekse mehr sehen. Wer weiss? 

Das erste Treffen: Zwischen Vorfreude, Neugier und Angst

Im Internet bin ich auf die Initiative SexualBegleitung, ein Angebot von InSeBe gestossen. Obwohl mich die Bezeichnung «Sexualbegleitung» gestört hat, habe ich mich bei InSeBe gemeldet. Manchmal hat man Mut, der einen später selbst erstaunt! Im Kontakt mit der Organisation habe ich gelernt, dass die Sexualbegleiter diese Bezeichnung auch nicht mögen und sich stattdessen «Berührende» nennen. Das fand ich so viel schöner! 

« Nebeneinander sitzen, kuscheln, massieren oder etwas über Sexualität und Selbstbefriedigung lernen. »
Andrea

Berührende bieten weder Ersatzpartnerschaften noch Sexualdienstleistungen an. Stattdessen geht es um gemeinsam verbrachte Zeit, die man individuell gestalten darf: nebeneinander sitzen, kuscheln, massieren oder etwas über Sexualität und Selbstbefriedigung lernen. Jeder hat andere Wünsche, Bedürfnisse und Grenzen - und zwar beide, Kunden und Berührende. Deshalb bespricht man vor jedem Treffen genau, was man machen möchte. Bei den Kosten habe ich dann allerdings gestutzt: Das Kennenlerngespräch kostet fünfzig, eine Stunde 150 Franken, dazu kommen oft noch Reisespesen. Ein Besuch würde also mein gesamtes Taschengeld aufbrauchen. Ich bin ein neugieriger Mensch und ganz nach dem Motto «wer nicht wagt, der nicht gewinnt», habe ich, noch bevor ich wieder kneifen konnte, ein Treffen vereinbart. Würde es mir nicht gefallen, so dachte ich, hätte ich es wenigstens ausprobiert. Die Zeit bis zum ersten Termin war eine ziemliche Achterbahn aus Vorfreude und «Angst vor der eigenen Courage». 

Und am Ende die Frage: Warum hat man mir Nähe verwehrt?

Als wir uns dann gegenüber standen, war ich so nervös, dass ich am liebsten gleich wieder gegangen wäre. In meinem Kopf war einerseits die Erinnerung an den stechenden Schmerz bei zufälligen Berührungen, andererseits aber auch die Neugier. Nach dem dritten (erfolglosen) Versuch meine Hand zu berühren, haben wir uns dann einfach nebeneinander gesetzt. Und, siehe da, grossflächige Berührungen haben nicht weh getan! Wir konnten entspannt kuscheln und haben versucht, wie Katzen zu schnurren. Diese Wärme und Geborgenheit taten mir unbeschreiblich gut. Die Zeit war dann leider viel zu schnell vorbei.

« Ich weiss nun, was ich brauche, mir wünsche oder nicht möchte. Dementsprechend kann ich für meine Bedürfnisse einstehen. »
Andrea

Diese erste Begegnung hatte einige «Nebenwirkungen»: eine sensorische Integrationstherapie, damit mein Gehirn Berührungen als solche erkennt, anstatt sie als Schmerz einzustufen, einen fast unstillbaren Durst nach noch mehr Nähe und eine ziemliche Gefühlssuppe aus Trauer, Wut, Freude, Angst. Und vor allem viele offene Fragen: Wieso hat mich vorher nie jemand berührt? Wieso hat man mir Nähe verwehrt und ist das überhaupt erlaubt, mir das zu verwehren? Ist es ethisch vertretbar, jemanden dazu zwingen, mit mir zu kuscheln, selbst wenn ich dafür Geld bezahle? Was ist, wenn ich mich verliebe? In meinem Kopf waren so viele falsche Überzeugungen. Ich bin zum Beispiel gar nicht auf die Idee gekommen, dass die Berührenden die gemeinsame Zeit auch geniessen können. 

Ich glaube, diese Erfahrung war für mich der Anstoss zum Erwachsenwerden. Als Mensch mit einer Beeinträchtigung wird man oft vom Umfeld unbewusst in eine Kinderrolle gedrängt. Das wollte ich nicht mehr. Heute lasse ich mir nicht mehr einfach alles gefallen. Ich weiss, was ich brauche, mir wünsche oder nicht möchte. Dementsprechend kann ich für meine Bedürfnisse einstehen, egal ob es Ruhe, Nähe oder ein geeigneter Wohnort ist. Und vor allem habe ich verstanden, dass jeder Mensch Nähe und Zuwendung braucht und dass das Geniessen von Sexualität nichts Verwerfliches ist.

Ich hoffe, meine Erfahrungen machen dir Mut, alles Liebe, Andrea.

*Name geändert

Wir danken Andrea herzlich für den offenen Erfahrungsbericht.


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