Schule: Systemwechsel zur Integration von Schülerinnen und Schüler mit Behinderung
Die Integration von Schülerinnen und Schülern mit einer Behinderung soll von der Ausnahme zur Regel werden. Die Erziehungsdirektorenkonferenz hat mit einer interkantonalen Vereinbarung die Weichen dazu gestellt.
Inklusion beginnt bereits im Kindergarten. (unsplash)
Marc besucht die 4. Klasse einer Regelschule im Kanton Bern. Eigentlich nichts Aussergewöhnliches – hätte der Schüler nicht das Down-Syndrom. Doch ihm gefällt es mit den anderen, nichtbehinderten Kindern in der Klasse. «In die Regelschule zu gehen war sein Wunsch», erklärt seine Mutter gegenüber EnableMe.
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Regelschule selbst gewählt
Marc ist das Zusammensein mit nichtbehinderten Kindern gewöhnt. Bereits im Kindergarten war er die halbe Woche mit Kindern ohne Behinderung zusammen. An den restlichen Tagen besuchte er dann den Kindergarten einer heilpädagogischen Schule. «Der ständige Wechsel gefiel ihm irgendwann nicht mehr und so wollte er nur noch in den Regelkindergarten gehen.» Von da an besuchte Marc dieselben Klassen wie seine nichtbehinderten Freunde, auch später in der Schule.
Möglich wurde dies – nicht zuletzt – dank dem Einsatz der Klassenlehrerin, welche die Integration von Marc unterstützt. Da er nicht genau denselben Stoff erlernen kann wie seine Schulkameraden, bekommt er sein Lernmaterial von der heilpädagogischen Schule. Die anderen Eltern wurden schon im Vorfeld über das Integrationsprojekt informiert. Von ihnen bekam Marcs Familie auch durchweg positive Reaktionen. Für die anderen Kinder in der Klasse sei Marc auch keine Belastung und sie können ihre Leistung voll entfalten. Marc selber freut sich, dass er in einem weitgehend «normalen» Umfeld leben kann und profitiert beispielsweise von der Sprachkompetenz der anderen Schülerinnen und Schüler. Er ist sozial sehr gut integriert und hat viele Freunde. «Seine Schulkameraden laden ihn auch zu Geburtstagsfeiern ein, wie die anderen Kinder auch», so Marcs Mutter.
Integration Aufgabe der Schulen
Damit eine solche Integration in Zukunft vermehrt möglich sein wird, hat die schweizerische Erziehungsdirektorenkonferenz (EDK) ein Projekt erarbeitet. Die Interkantonale Vereinbarung über die Zusammenarbeit im sonderpädagogischen Bereich ist 2011 in Kraft getreten. Ziel der Vereinbarung war, die Zusammenarbeit zwischen den Kantonen im Bereich der Sonderpädagogik zu harmonisieren und den Verpflichtungen nachzukommen, Benachteiligungen von Menschen mit Behinderung zu beseitigen.
Im Besonderen legen die Kantone das Grundangebot fest, welches die Bildung und Betreuung von Kindern und Jugendlichen mit besonderem Bildungsbedarf garantiert. Zudem fördern sie die Integration dieser Kinder und Jugendlichen in der Regelschule. Hinzu kommt, dass sie sich zur Anwendung gemeinsamer Instrumente verpflichten. Dabei gilt für die Kantone, die verfassungsrechtlichen und gesetzlichen Pflichten umzusetzen. So wurde im Rahmen einer Volksabstimmung 2004 über die Neugestaltung des Finanzausgleichs und der Aufgabenteilung zwischen Bund und Kantonen (NFA) bestimmt, dass die Kantone für eine ausreichende Sonderschulung aller Kinder und Jugendlichen mit Behinderung zuständig sind. Dies betrifft vor allem die obligatorischen Schulen. Früher war dies der Aufgabenbereich der Invalidenversicherungen (IV).
Kantone zur Integration verpflichtet
Ausserdem verpflichtet Artikel 20 des Behindertengleichstellungsgesetzes (BehiG) die Kantone folgendermassen: «Die Kantone sorgen dafür, dass behinderte Kinder und Jugendliche eine Grundschulung erhalten, die ihren besonderen Bedürfnissen angepasst ist; sie fördern, soweit dies möglich ist und dem Wohl des behinderten Kindes oder Jugendlichen dient, mit entsprechenden Schulungsformen die Integration von Kinder und Jugendlichen mit Behinderung in die Regelschule; sie sorgen insbesondere dafür, dass wahrnehmungs- oder artikulationsbehinderte Kinder und Jugendliche und ihnen besonders nahe stehende Personen eine auf die Behinderung abgestimmte Kommunikationstechnik erlernen können.»
Um diesen Vorgaben gerecht zu werden, folgt die interkantonale Vereinbarung folgenden Grundsätzen:
- Die Sonderpädagogik ist Teil des öffentlichen Bildungsauftrages.
- Integrative Lösungen sind separierenden Lösungen vorzuziehen, unter Beachtung des Wohles und der Entwicklungsmöglichkeiten des Kindes oder des Jugendlichen sowie unter Berücksichtigung des schulischen Umfeldes und der Schulorganisation.
- Für den Bereich der Sonderpädagogik gilt der Grundsatz der Unentgeltlichkeit; für Verpflegung und Betreuung kann von den Erziehungsberechtigten eine finanzielle Beteiligung verlangt werden.
- Die Erziehungsberechtigten sind in den Prozess – betreffend der Anordnung sonderpädagogischer Massnahmen – miteinzubeziehen.
Werden aufgrund einer Behinderung bauliche Massnahmen nötig, so kommt das BehiG zu tragen, welches die Zugänglichkeit zu öffentlichen Bauten regelt. Die Kantone oder private Schulen sind somit verpflichtet, bei Neu- und Umbauten den Zugang für Menschen mit Behinderungen zu gewährleisten. Dies geschieht im Rahmen der vom BehiG (Abschnitt 3) geregelten Verhältnismässigkeit. Ein grundsätzliches Recht auf eine sofortige Anpassung besteht nicht.
Langfristig die bessere Lösung
Die Umsetzung der Vereinbarung löst aber auch Fragen und Befürchtungen aus. Ist so den Schülerinnen und Schülern mit Behinderung gedient? Entsteht dadurch kein Spardruck, indem versucht wird, die kostspieligen Sonderschulen einzusparen? Denn der Wechsel von einer Sonderklasse in eine Regelklasse wird für alle beteiligten eine Umstellung bedeuten.
«Ich bin optimistisch, dass auf längere Sicht Integration die bessere Lösung ist», erklärt Martin Wendelspiess, Amtschef des Volksschulamtes Zürich. Im Kanton Zürich wird mittels Standortgesprächen geklärt, ob die Integration einer Schülerin oder eines Schülers möglich ist. Dabei werden im Gespräch mit Eltern, Lehrpersonen und – falls möglich – Schülerinnen und Schülern, nach Möglichkeiten einer Integration gesucht. Dabei stehen die Fähigkeiten des Kindes im Vordergrund, nicht seine Defizite. Wird die Integration in eine Regelklasse gewünscht und als sinnvoll betrachtet, wird das schulische Umfeld betrachtet. Kann die Schule eine solche Integration umsetzen und kann die vorgesehene Klasse das Kind tragen?
Kostenneutral für Kantone
Als nächster Schritt kommt die Überlegung, ob das nötige Know-how vorhanden ist oder wo es allenfalls hergeholt werden muss. Braucht es eine externe Fachperson mit besonderer pädagogischer Ausbildung oder reicht, wenn sich die vorhandenen Lehrpersonen ergänzen? Wie Wendelspiess erklärt, ist eine Integration in eine Regelklasse für den Kanton kostenneutral. So brauche es beispielsweise keine besonders geschulte Fachperson, um ein Kind mit Behinderung auf die Toilette zu begleiten. Die fachliche Hilfe wird nur dort angewendet, wo sie auch wirklich benötigt werde.
Sonderschulen wird es aber auch in Zukunft geben, obwohl der Schwerpunkt auf Integration in Regelschulen gelegt wird. «Im Zweifelsfall sollte eine Integration gesucht werden, aber nicht um jeden Preis» wie Martin Wendelspiess es ausdrückt.