«Nach fünfzig Suizidversuchen habe ich aufgehört zu zählen»
Stephanie Kellenberger hat Paraperese und eine Borderline-Persönlichkeitsstörung. Früher war sie chronisch suizidal. Heute, nach über fünfzig Suizidversuchen, hat sie ihre Lebensfreude wiederentdeckt und ist dankbar dafür, dass sie noch am Leben ist.

Stephanie Kellenberger spricht offen über ihre Krankheit. (Stiftung MyHandicap / EnableMe)
Definitiv ja. Jetzt sehe ich, wie viel Schönes es auf der Welt gibt. Es braucht nicht immer die grossen Wunder. Ganz viele kleine Dinge können auch grosse Freude machen. Sonne zum Beispiel und die frische Luft. Oder meine drei Katzen und mein Textilatelier, das ich in meiner Wohnung eingerichtet habe.
Glück bedeutet für mich, ein normales Leben zu haben. Oder zumindest normale Punkte im Leben. Hobbys zum Beispiel oder Tiere. Einfach Dinge tun, die andere auch können. Und natürlich zufrieden sein. Das bedeutet Glück für mich.
Definitiv ja. Ich mache Rollstuhl Unihockey, das macht mir wahnsinnig viel Spass. Oft kann ich mich für viele Sachen nicht aufraffen, aber fürs Rollstuhl-Unihockey habe ich immer Energie. Egal, wie schlecht es mir geht. Und danach fühle ich mich jedes Mal einfach gut.
Er sorgt dafür, dass ich nicht mehr wie früher in meiner Wohnung eingesperrt bin. Ich kann rausgehen, wann immer ich Lust habe, ohne jemanden fragen zu müssen, ob er mir hilft. Ich kann selbstständig nach draussen, wie zum Beispiel für dieses Interview hier.
Das ist von Person zu Person unterschiedlich. Eine Zeitlang ging es mir sehr schlecht und ich war chronisch suizidal. Man konnte mich nicht aus den Augen lassen, weil ich gefährlich mit mir selbst umgegangen bin. Irgendwann bekam ich aber meine Selbstständigkeit zurück. Das half mir sozusagen aus der Krise.
Diskussionen in der Community
Naja, ich hatte früher eine sehr, sehr schlechte Zeit. Aufgrund von Kindheitstraumata und meiner Borderline-Persönlichkeitsstörung ging es mir gar nicht gut. Ich wollte nicht mehr leben. Ich wollte nichts mehr wissen von dieser negativen und bösen Welt. Und ich wollte nichts mehr mit der Welt und mir selber zu tun haben. Aber, was mir da rausgeholfen hat, war, dass ich eine neue Chance bekommen habe. Mit einer eigenen Wohnung und einem selbstständigen Leben. Das treibt mich immer wieder an, weiterzumachen.
Ich muss vorwegnehmen: Ich habe es über fünfzigmal versucht. Nach fünfzig habe ich aufgehört zu zählen. Ich habe es auf verschiedene Arten versucht: Sprung aus der Höhe oder vor den Zug, wobei ich froh bin, dass ich von Letzterem abgehalten wurde. Ich habe es mit einer Überdosis Medikamenten versucht, mit anderen toxischen Stoffen und extremen Selbstverletzungen. Ich rate jedem von einem Suizidversuch ab. Es ist nicht zu empfehlen.
Ich muss ehrlich sein: Damals war mir das schei**egal. Heute bin ich froh, noch hier zu sein. Ich liebe mein Leben trotz allem. Wenn ich so zurückschaue, verstehe ich mich ein Stück weit. Aber aus der heutigen Sicht bin ich froh, dass die Suizidversuche nicht geklappt haben. Mein heutiges Ich versteht mein früheres Ich nicht.
Ich kann es einfach aus der Sicht einer ehemaligen Betroffenen sagen. Ich halte nicht viel von diesen Präventionshotlines. Wenn ich einen suizidgefährdeten Menschen antreffen würde, würde ich ihn in ein Gespräch verwickeln. So, dass er erstmal von den Suizidgedanken abgelenkt wird. Ich würde nach seinen Hobbys und Interessen fragen. Aber niemals würde ich etwas sagen wie: «Es gibt doch auch schöne Dinge im Leben.» Ich würde eher versuchen, ein normales Gespräch zu führen. So, dass es dann von alleine in eine positive Richtung verläuft und ich versuchen kann, positive Gefühle in diesem Menschen zu wecken.
Früher, als ich gesund war, hatte ich ganz viele Freunde. Als ich krank wurde und meine Einschränkungen immer mehr wurden, schrumpfte mein Freundeskreis. Dadurch habe ich gelernt, zwischen richtigen und falschen Freunden zu unterscheiden. Das können gesunde Menschen von kranken lernen: Wer ein echter und wer ein falscher Freund ist.
Ja, ich habe gegenüber gesunden Menschen den Vorteil, dass ich mutiger geworden bin und schneller Risiken eingehe. Dafür weiss ich aber auch genau, wo meine Grenzen sind. Und ich schätze meine Gesundheit, weil ich weiss, dass ein gesunder Körper keine Selbstverständlichkeit ist. Durch dieses Wissen schätze ich das, was bei mir gesund ist, viel mehr.
Mir gibt Energie und Mut, wenn ich abends in meiner Küche sitze, auf den Tag zurückschaue und mir selber sagen kann, dass ich erreicht habe, was ich mir für den Tag vorgenommen habe. Dass ich jeden Punkt auf meiner Liste abgehakt habe und stolz auf mich sein kann.