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Prothese aus Eigenproduktion

Für Wolf Schweitzer sind handelsübliche Prothesen ein nerviges Handicap. Denn sie gehen ihm oft schon nach wenigen Wochen kaputt. Daher hat er den Entschluss gefasst, selber ein Handgelenk zu entwickeln.

Unsere Hänge müssen vieles aushalten und werden oft gewaschen. Eine besondere Herausforderung für Prothesen. | © pixabay

Unsere Hänge müssen vieles aushalten und werden oft gewaschen. Eine besondere Herausforderung für Prothesen. (pixabay)

Der Albtraum eines jeden Armprothesenträgers: Man hat sich hübsch gemacht, samstagabends ist ja Ausgehen angesagt. Doch plötzlich reisst der Kabelzug – die erst ein paar Monate alte Prothese ist nun unbrauchbar und der Abend quasi im Eimer. Denn es findet sich so schnell keiner, der den Defekt behebt.  

«Einen Termin beim Orthopädietechniker bekommst du erst in der nächsten Woche», sagt Wolf Schweitzer genervt über die höchst unangenehme Situation. Damals, beim ersten Mal, ging der Zürcher in den Baumarkt, holte sich Stahlseil und Klemmen und brachte seine Prothese selbst wieder auf Vordermann. Dass der Zürcher dies bewerkstelligte, liegt insbesondere daran, dass er aus einer technikbegeisterten Familie kommt.

Selber bauen ist besser

«Von klein auf bekam ich direkte Einsicht in vielerlei technische Dinge und sammelte praktische Erfahrungen mit der Tatsache, dass gut und fachmännisch selber gebaute Teile immer wieder viel besser funktionieren als irgendwo eingekaufte Teile», erzählt Schweitzer, der heute als Rechtsmediziner an der Universität Zürich arbeit.  

«In meinem recht vielseitigen Beruf arbeite ich zwischendurch im Freien, im Sommer bei entsprechend heissen und im Winter auch bei kalten Temperaturen. Es gibt manchmal schwere Gewichte zu drehen, zu ziehen oder zu heben. Es kommt vor, dass man sich vor allem die Hände sehr gut waschen oder desinfizieren muss und dadurch kommen diese mit Chemikalien in Kontakt», erzählt Schweitzer.

Hohes Anforderungsprofil an Prothese

Dementsprechend benötigt Schweitzer, dem am rechten Vorderarm aufgrund eines Tumors die Hand abgenommen werden musste, eine robuste und gleichzeitig einfach zu handhabende Eigenkraftprothese, die hohe Belastungen sowie repetitive Handlungen wie beispielsweise das Tippen am Computer aushält. 

« Selbst Standardbauteile von Prothesen namhafter Hersteller gehen bei mir innerhalb von Tagen oder gar Minuten kaputt. »

Hinzu kommt, dass Menschen mit Amputation eine Prothese in der Regel als Teil ihrer körperlichen Integrität ansehen, so Schweitzer. Deshalb reagieren sie, wenn die Prothese kaputt geht, mit Enttäuschung oder Wut. Bei Schweitzer kommen bei einem Defekt zudem noch Phantomschmerzen hinzu: «Denn die Prothese geht ja immer kaputt, wenn man sie gerade nutzt.» Oft gerät er dadurch in eine Stresssituation, man ist dann sehr angespannt. Und genau dies fördert bei ihm den Phantomschmerz. 

Prothesen selber bauen

So blieb Schweitzer nichts anderes übrig, als seinem Faible für Technisches treu zu bleiben und selbst aktiv zu werden. Er informierte sich bei mehreren Firmen über die verschiedenen Komponenten, die eine Eigenkraftprothese ausmacht. Zusammen mit einem befreundeten Formenmacher analysierte er seine alte Prothese in einer Werkstatthalle von einem wiederum befreundeten Unternehmer für Fertigungstechnik – und stiess auf Ungenauigkeiten sowie kaum belastbare Bestandteile.

«Natürlich hätte ich bei der Herstellerfirma Nachbesserung verlangen können, auf Ersatz pochen – aber dort war man uneinsichtig. Das Weiterführen dieser Art der Verhandlung war ja gar nicht mein Ziel, bestenfalls hätte ich dieselben Teile vom selben Hersteller in derselben fragilen Ausführung noch einmal bekommen», erklärt Schweitzer.    

Mitentwickler und Prothesentester Schweitzer

Sein Do-It-Yourself-Wille erwachte. Zusammen mit Robert Meili, dem Fertigungsunternehmer und zwei weiteren Kollegen entwickelte er zunächst den Prototyp eines äusserst robusten Handgelenks. «Mein Orthopädietechniker staunte bereits darüber und meinte, er habe noch nie ein derart stabiles Gelenk in der Hand gehabt», erzählt Schweitzer.   

Schweitzer durfte das Produkt (und natürlich auch alle weiteren) selbst testen und dabei in seinen Testberichten möglichst kritisch sein. Denn er befindet sich nicht auf Roman Meilis Lohnliste, heisst es auf der Webseite des Teams, und ist daher unabhängig genug, um sich seine eigene Meinung zu erlauben. Basierend auf seinen Erfahrungen entwickelte sein Team ein weiteres Handgelenk mit so genanntem Schnellverschluss – wie man es heutzutage bei Bohrmaschinen kennt.

Schnelles Verändern oder Auswechseln

«Da diese Sorte von Verschlüssen eine Spezialität von Meili ist, lag es nahe, auf diesen Erfahrungen aufzubauen», erklärt Schweitzer diesen Schritt. «Denn um mit einer Armprothese gut arbeiten zu können, muss man des Öfteren den Winkel der Prothesenhand oder des Hooks (dt. für Haken) verändern können. Auch besteht immer wieder der Bedarf, Hand oder Hook auszuwechseln.»  

Das war die Geburtsstunde der Produktlinie PUPP+CH+EN. Was hinter diesem niedlich anmutenden Begriff steckt, ist ein ironischer Seitenhieb auf Prothesenhersteller, die ihre Produkte beispielsweise 'äusserst robust' nennen, obwohl eher das Gegenteil der Fall ist, wie Schweitzer sagt. «Wir wollten damit diese inflationäre Wortwahl wieder auf den Boden der Tatsachen stellen.»

Einzelanfertigung auf Anfrage

Auf Anfrage bietet Meilis Fertigungsunternehmen seit neuestem das Schnellverschluss-Handgelenk «PUPP+CH+EN 1» in Massanfertigung an, welches zum Beispiel mit einer Becker Hand oder einem Hook bestückt werden kann.   

« Man zieht den Verschlussdeckel zurück, dreht etwas und schon öffnet sich die Verriegelung. Man kann dann die Position der Hand beziehungsweise des Hooks verändern oder austauschen. Und mit einer kleinen Gegendrehung schnappt der Verschluss wieder zu. »

Mit dem nur knapp 300 Gramm schweren und sehr stabilen Handgelenk PUPP+CH+EN 1 soll es sogar möglich sein, Liegestützen zu machen, schwere Kisten zu tragen, monatelang Schreibarbeiten auf Tastaturen zu erledigen. «Und dennoch wackelt es nicht», ist Schweitzer nach acht Monaten mit dem Handgelenk überzeugt.   

Relativ niedriger Preis für ein hochwertiges Produkt

Der Preis des Handgelenks liegt bei 1500 Schweizer Franken – ein vergleichbares Teil von der Konkurrenz kostet ein Mehrfaches. Die Kosten können unter Umständen übernommen werden. Vorausgesetzt, der Kostenvoranschlag wird über einen orthopädie-technischen Betrieb eingereicht, so Raoul Bergmann. Er ist von der SAHB, einer Hilfsmittelstelle, welche für die Schweizer Invalidenversicherungen Rechnungen prüft. «Für unsere Abklärungen gibt es keine normierte Vorgehungsweise, denn wir beurteilen situationsbedingt», sagt Bergmann.   

Auch bei PUPP+CH+EN läuft nichts nach Norm. «Es gibt derzeit keine Prothesenbauteile, die ,for life' (,für das Leben') hergestellt werden – nicht einmal näherungsweise.» Damit meint Schweitzer, dass die Bestandteile jeder Prothese früher oder später gewartet oder ersetzt werden müssen. Alles, was dem Benutzer der Prothese erlaubt, statt schon nach wenigen Wochen nur einmal alle paar Monate oder gar einmal im Jahr Hilfe zu suchen, hilft. Aus diesem Grund ist gute, langlebige Qualität das A und O, ist Schweitzer überzeugt. Aber er weiss auch genau, dass der Markt für diese Produkte eher klein ist. «Da darf man sich nichts vormachen.»  

Baupläne für jeden zugänglich

«Genau diese Nische ergänzen wir mit Open Source Design, eigenen neuen Ideen und präziser Fertigungstechnik», erklärt Schweitzer. Open Source heisst, dass die technischen Entwürfe jedem frei zugänglich und somit beliebig veränder- oder erweiterbar sind. Das Design von PUPP+CH+EN 1 wird übrigens möglichst bald veröffentlicht werden. 

«Man muss das Rad ja nicht immer wieder selbst erfinden», meint Schweitzer. «So wird allen Interessierten transparent dargestellt, welche Verbesserungs-möglichkeiten es gibt und sie können diese Möglichkeiten nach Bedarf umsetzen.» Transparenz hat bei dem Team um PUPP+CH+EN eine hohe Priorität.

«Mittelfristiges Ziel ist es daher, taugliche Produkte entweder auf dem Markt zu identifizieren und durch Bereitstellen von Informationen über interessante hochwertige Komponenten anderen verfügbar zu machen oder sie selbst zu bauen und anzubieten. Mit dem Handgelenk haben wir ein hervorragendes erstes Produkt, weitere werden folgen», blickt Schweitzer zuversichtlich in die Zukunft.   


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