Potentialentfaltung für Kinder mit besonderen Bedürfnissen
Ihr Kind mit Behinderung ist eine Persönlichkeit mit vielen Neigungen, Begabungen und Talenten. Der Alltag mit seinen vielen Herausforderungen ist auch für Ihr Kind kräftezehrend und das Bedürfnis nach einem Ausgleich ist natürlich. Freundschaften können durch die Beschäftigung mit Malen, Musik hören oder das eigene Musizieren entstehen. Wir haben Fragen zu diesem Thema aufgestellt und sprachen mit unserer Fachperson Salome Janner, diplomierte Musikerin und Musiktherapeutin an der Musikakademie Basel über Ihre Erfahrungen mit integrativen Ensembles.
Jeder Mensch hat Talente - es gilt sie nur zu finden. (pixabay)
Mein Motiv ist das Aktivieren und Verfeinern von Ressourcen, um Menschen resilienter zu machen. Nachdem ich dreizehn Jahre an der Musikakademie Basel als Viola-Lehrerin gearbeitet habe, entschied ich mich im Jahre 2003 eine Weiterbildung zur Musiktherapeutin zu machen. Beim Unterrichten an der Musikschule begegneten mir immer wieder Menschen, die einerseits eine grosse Begeisterung für Musik, andererseits aber auch grosse Schwierigkeiten haben, auf dem Instrument Fortschritte zu machen. Seither frage ich mich, was es ist, was sie trotz dieser Schwierigkeiten nicht aufgeben lässt, sich mit diesem Instrument zu beschäftigen? Juliette Alvin gibt an dieser Stelle eine Erklärung dafür. Sie unterscheidet zwischen musikalischer Sensibilität und musikalischer Begabung. «Musikalische Sensibilität ist eine Veranlagung, bei der durch musikalische Klänge angenehme Gefühle geweckt werden, wobei das Vergnügen körperlich, sinnlich, geistig oder emotional empfunden werden kann. Sie sollte nicht mit der musikalischen Begabung verwechselt werden, welche die Fähigkeit ist, kreatives und reproduktives Können in der Musik zu erwerben - die jedoch latent bleibt, wenn es an Gelegenheit zu ihrer Entwicklung fehlt.» (ALVIN, 1988, S. 14).
Digitale Begleitstelle: Hilfe für Eltern von Kindern mit Behinderungen
Als Eltern eines Kindes mit Behinderungen haben Sie im Alltag viele zusätzliche Herausforderungen zu meistern. Hier finden Sie Hilfe in jeder Lebensphase Ihres Kindes – mittels Informationen sowie Austauschmöglichkeiten im Forum.
Im Jahr 2005, kurz nachdem ich meine musiktherapeutische Ausbildung angefangen hatte, wurde ich von der Musikschulleitung angefragt, ob ich mir vorstellen könnte, einen zehnjährigen autistischen Schüler zu unterrichten. Von diesem Zeitpunkt an war ich bestrebt, an der Musikschule diesen «Musikunterricht mit therapeutischer Begleitung für Menschen mit besonderen Bedürfnissen oder Lernvoraussetzungen» aufzubauen. Zunächst habe ich mit 5 Instrumenten angefangen und mir dann jedes Jahr geeignete Instrumente auf privater Basis ausgesucht und angeschafft. An dieser Stelle möchte ich gern die Instrumente u.a. aus der Klangwerkstatt Bernhard Deutz in Berlin, ein sehr bekannter Musikinstrumentenbauer, erwähnen. Es sind vor allem Saiteninstrumente und Klanginstrumente, welche einen hohen sogenannten Appellcharakter haben, und die Menschen mit Behinderungen zum Musikmachen einladen.
Ich habe in der Praxis zunächst Einzelunterricht gegeben. In der Folge erhielt ich 2008 einen Lehrauftrag für dieses neue Fach «Musikunterricht mit therapeutischer Begleitung für Menschen mit besonderen Lernvoraussetzungen». Die Anstellung an der Musikschule stand im Zusammenhang mit der Umsetzung des Behinderten-Gleichstellungsgesetzes von 2004. Im Rahmen der Anstellung unterrichte ich Einzelunterricht und seit 2020 leite ich ein integratives Ensemble mit dem Namen «Kreuz und Quer». Wir haben uns mit diesem Projekt trotz Coronapandemie durchgesetzt und gerade in dieser Zeit Kontinuität gelebt. Alle Kurse konnten stattfinden. Es fanden Onlinekurse oder Kurse in kleinen 4er-Gruppen unter Beachtung der Corona-Hygieneregeln statt. Die Konzerte wurden gestreamt oder live, mit wenig Publikum und nur mit Covid-Zertifikat aufgeführt. Das ausdauernde dabei Bleiben hat erfreulich gezeigt: Wir sind nicht zu bremsen!
Diskussionen in der Community
Das Musizieren mit musiktherapeutischer Begleitung erfordert auch ein hohes Mass an Unterstützung des sozialen Umfeldes. Diese sozialen Betreuungsaufgaben sind wichtig, konkret die Betreuung des Umfeldes der Familie betroffener Menschen wie Angehöriger, Therapeuten, Lehrer und Heilpädagogen. Diese Draufsicht auf Menschen mit besonderen Bedürfnissen, mit ihrem Umfeld, das ist anders als im Instrumentalunterricht. Für Eltern ist es wichtig, in Kontakt zu kommen, sich auszutauschen und etwas zu erfahren über ihre Kinder. Dieses Bedürfnis ist besonders bei integrativen Ensembleangeboten sicht- und spürbar. Beispielhaft möchte ich erwähnen, dass eine Schülerin seit 17 Jahren zu mir kommt. Es ist für sie der Höhepunkt der Woche, sie lebt mit einer Autismus-Spektrum-Störung und hat eine riesige Entwicklung durchgemacht.
Es fällt mir auf, dass es wichtig ist, die emotionale und regulative Entwicklung zu unterstützen und Perspektiven aufzuzeigen. Die Integration in der Schule ist oft sehr belastend für die jungen Menschen. Kinder und Jugendliche müssen eine enorme Anpassungsleistung erbringen, um sozial kompatible Kinder zu werden, die Frage der Optimierung schwebt so zu sagen immer über ihnen. Ich habe den Eindruck, vor lauter Förderung und Optimierung werden diese Kinder und Jugendlichen zu eng geführt und leben unter grossem Leistungsdruck und Stress. Ich versuche durch musiktherapeutische Tätigkeit einen Ausgleich, als eine Art Ventil anzubieten. Stellen Sie es sich vor wie eine Art «Probeleben» im Sinne der Musik im geschützten Rahmen. Darin hat es für alle Beteiligten Platz und Ausdrucksmöglichkeiten. So ist die Auseinandersetzung mit dem Instrument und der Musik für die Beteiligten ein spielerisches Ausprobieren, Entspannung, eine Form des Ausdruckes und Eintauchen in eine andere Welt. Dazu möchte ich einen Ausspruch zitieren von einem grossen Komponisten aus den 60ern John Cage: «Music is like a testlab, where you can try out life» zu finden in «Lecture on Something», 1954, JCS S.139. Im Sinne der Kunst als «eine Art Labor, in dem man das Leben ausprobiert».
Meine Erfahrungen zeigen, Musik wirkt auf den Menschen, Musikinstrumente sprechen Kinder, Jugendliche und Erwachsene an, wecken das Interesse und die Neugier. Junge Menschen möchten sich ausdrücken, experimentieren, spielen, etwas gestalten und verwirklichen. Sie möchten Töne spielen und hören, Rhythmen erfinden und dazu tanzen, alles gerne ohne Leistungsdruck in die Welt der Musik eintauchen können. Viele Teilnehmer:innen des Musikunterrichtes mit musiktherapeutischer Begleitung kommen über Jahre und Jahrzehnte regelmässig jede Woche in den Unterricht. Die Musikschule ist ein schöner lebendiger Ort, sie kommen gerne, denn sie wollen so sein, wie alle anderen Menschen. Das ist ein wichtiger Bestandteil der Teilhabe am normalen Leben in der Musikschule, sie haben dann eben nicht das Gefühl, in die Therapie gehen zu müssen. Die Begegnung zwischen Menschen mit und ohne Behinderung, jeder mit seinen besonderen Bedürfnissen ist an der Musikschule möglich und leistet damit einen erheblichen Beitrag weg von Stigmatisierung und Diskriminierung hin zur Integration.
Im Vordergrund sehe ich die Förderung der intrinsischen Kraft, die Entwicklung des Eigenen. Nicht die Therapie steht im Fokus, sondern die Experimentierfreude und das Spiel sind die Motivation. Musik hören oder Musizieren stärkt und lässt Entwicklung zu, das ist bei allen Menschen gleich: Die Musik stärkt das Selbstvertrauen, die eigene Ausdruckskraft, die Selbstwirksamkeit, die Persönlichkeit und Individualität werden gefördert, die Konzentrationsfähigkeit entwickelt. Das Dranbleiben und Ausdauer haben, die Frustrationsgrenzen werden erweitert, motorische Fähigkeiten entwickelt, Entspannung, Kontakt und Vertrauen aufgebaut. Mit Musik in Beziehung und Kontakt gehen, das heisst, das Erklingen eines Instrumentes erleben, sich zeigen, so wie man ist und fühlt.
Das Üben mit dem Instrument soll freiwillig sein. Aus eigener Kraft und Entscheidung, ohne Druck sich dem Musizieren zuwenden, nur dann wird Musik etwas, was mit Dir selber zu tun hat. Es gibt Schüler:innen, welche zu Hause viel üben und andere, welche einfach gerne in den Musikunterricht kommen, ohne zu Hause zu üben. Die musiktherapeutische Begleitung verstehe ich als innere Einstellung: Hilf mir, es selbst zu tun, so wie es für mich gut ist. Vertrauen in sich selbst aufbauen, davon bin ich überzeugt. Ich erlebe, dass es seit über 30 Jahren an der Musikschule funktioniert. Das Instrument ist ein Begleiter und ein Teil von Dir selbst, das möchte ich den Schüler:innen vermitteln. Ich führe regelmässig Elterngespräche durch, um ihnen zu zeigen, wie ich arbeite. Ein Elternabend soll ihnen zeigen, dass für ihre Kinder der Bezug zum Instrument wichtig ist. Ich möchte den Eltern vermitteln, dass sie hierbei eine wichtige Rolle einnehmen können und dass weniger Leistungsdruck die Liebe zur Musik und zum Instrument fördern kann. Eltern mögen darauf achten, dass sie die richtige Rolle bei der Begleitung einnehmen, indem sie ihrem Kind vermitteln, es geht nicht um Leistung, sondern um den freudbetonten Umgang mit Musik und Instrumenten.
Die Musikschule Basel wird von der Stadt Basel subventioniert und wir ermöglichen auch Schulgeldermässigungen. Ebenso gibt es gemeinnützige Stiftungen, die gerade den Unterricht von Menschen mit Behinderungen fördern und unterstützen. Ich ermutige interessierte Eltern, diesen Schritt zu gehen und aktiv zu werden, die Musikschule und ich stehen hinter deren Anliegen. Es gibt immer eine Möglichkeit, Begabungen zu fördern, ich bin behilflich, diese aufzuzeigen und versuche, die Eltern zu unterstützen. Beispielhaft sei an dieser Stelle ein hochbegabter Junge genannt, der mit sieben Jahren zu mir kam, da seine Heilpädagogin ihn zu mir schickte zur Abklärung. Die Eltern, ursprünglich aus der Türkei in die Schweiz eingewandert, hatten kein Geld, seine musikalische Begabung zu fördern. Wir haben eine Stiftung gewinnen können und jedes Jahr einen Bericht über seine Entwicklung an die Stiftung geschickt. Die Stiftung war über die Fortschritte sehr stolz. Der heute junge Erwachsene verdient einen Teil seines Lebens durch Musik und spielt an Hochzeiten und an Festen oder Anlässen, musiziert zusammen mit Freunden, aber auch allein, mit einer Musikanlage, auf welchem er Lieder komponiert und Begleitungen dazu erfindet.
Es gibt zwei Angebote an der Musikschule, Einzelunterricht und Ensemble. Am besten können am Einzelunterricht interessierte Eltern eine kostenlose Schnupperstunde für deren Kinder und Jugendliche vereinbaren. Die Musikakademie Basel hält dafür alle notwendigen Kontaktinformationen vor. Zum zweiten Angebot der Ensembles finden Interessierte auch bald eine Videoaufzeichnung vom Konzert, um sich ein Bild von unserer Arbeit zu machen. Es ist möglich, sich für das Ensemble Kreuz und Quer anzumelden. Ich nehme Kontakt mit allen angemeldeten Personen auf, welche ich noch nicht kennenlernen durfte. Musiktherapeutische Begleitungen sollten in Musikschulen in jedem Kanton vorgehalten oder aufgebaut werden, fragen Sie als Eltern unbedingt danach!
Es braucht keine Voraussetzungen. Jeder und jedes Kind, Jugendliche und Erwachsene sind willkommen. Ich möchte eingehen auf das, was gerade ist, das Kind abholen, dort wo es steht. Die Entwicklung des Potenzials ist offen. Ich möchte alle Teilnehmer:innen vorher kennenlernen. Das ist eine wichtige Voraussetzung, um die Gruppeneinteilung zu planen. Für Eltern von Kindern mit Behinderungen und/oder Hochbegabungen, welche nicht aus dem Kanton Basel kommen, sei erwähnt: Die Angebote der Musikschule Basel richten sich aufgrund der Finanzierung durch den Kanton Basel grundsätzlich an die Bevölkerung von Basel-Stadt. Schüler:innen mit Wohnsitz im Kanton Baselland können über den kantonalen Austausch eine Spezialbewilligung erlangen, wenn es das Fach/Ensemble im Wohnkanton nicht gibt. Schüler:innen mit Wohnsitz in anderen Kantonen und im Ausland können jedoch ebenfalls eine Spezialbewilligung erlangen.
Die Hemmschwelle ist relativ gross, um sich bei der Musikschule zu informieren. Was sind die Hintergründe? Nach meiner Auffassung ist die Vorstellung von Musik mit hohen Ansprüchen verbunden, vor allem mit Leistung und Entwicklung. Dies ist bei der Musiktherapie ganz anders gelagert: Ich möchte auch hier Eltern ermutigen, diesen Schritt mit und für ihre Kinder zu tun: Die Ansprechbarkeit für Musik kann nur aktiv über das Tun und das sich Hineinbegeben entdeckt und entwickelt werden. Wichtig ist hierbei, den Bezug zur Musik herbeizuführen. Da Menschen mit Behinderungen ihre Bedürfnisse oft wenig gut ausdrücken können, ist es wichtig, dass man ihnen Musik anbietet und sie zum Musizieren einladen kann. Nur durch das Tun, Kennenlernen und Einladen kommt man erst in Kontakt mit Musik und eröffnet so ein vielfältiges Lernfeld, welches einen Menschen mit besonderen Bedürfnissen ein Leben lang begleiten kann. Kreative Angebote, wie Kunst und Musik sind wichtige Lernfelder, der Einstieg ist niederschwellig und die Entwicklungsmöglichkeiten geradezu unbegrenzt.
Dieser Artikel richtet sich an Eltern von Kindern mit Behinderungen und ist Teil der digitalen Begleitstelle. Haben Sie ergänzende Bemerkungen? Wir freuen uns über Ihre Rückmeldung per Mail an info@enableme.ch.