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Amelotatismus

Schon allein das Wort «Amelo» ruft bei vielen Menschen mit Behinderungen Gänsehaut hervor. Andere jedoch stehen Amelos offen gegenüber. Aber was steckt eigentlich hinter Amelotatismus?

Eine junge Frau hält mit ihrer Armprothese Blumen an ihren Rücken. | © pexels

Für Menschen mit Behinderungen ist es oft unverständlich, dass jemand etwas, das so unperfekt ist, anziehend findet. (pexels)

Das folgende Zitat stammt vom französischen Philosophen Luc de Clapiers Vauvenargues, der im 16. Jahrhundert lebte. Das Phänomen des Hingezogenseins zu Menschen mit einer körperlichen Behinderung gibt es wahrscheinlich, seit es Menschen gibt. Allerdings wurde ihm erst Ende des 19. Jahrhunderts Bedeutung geschenkt.

« Man kann auch diejenigen von Herzen lieben, deren Mängel man wohl kennt. Es wäre überheblich zu glauben, dass einzig das Vollkommene das Recht habe, uns zu gefallen. »
Luc de Clapiers Vauvenargues war ein französischer Philosoph, Moralist und Schriftsteller.

Begriffsformen im Wandel der Zeit

1886 beschrieb der Psychiater und Gerichtsmediziner Richard von Krafft-Ebing in seinem Werk «Psychopathia sexualis» als Erster die sexuelle Abweichung des «Deformationsfetischismus». 

Die Begriffsformen für die sexuelle Vorliebe zu Menschen mit Behinderungen haben sich mit den Jahren geändert. Heute zählt der Begriff des Amelotatismus zu den gebräuchlichsten für die besondere Zuneigung zu Menschen mit körperlichen Einschränkungen. Amelotatismus leitet sich aus dem Griechischen ab und bedeutet soviel wie die Zuneigung (tatis) für Menschen ohne (a) Glied (melos) – sprich: die Zuneigung für Menschen mit fehlenden Gliedmassen. 

Losgelöst von dieser wörtlichen Übersetzung versteht man heute unter Amelotatismus mehrheitlich die Zuneigung zu den unterschiedlichsten Formen von Behinderung. Der Begriff beinhaltet sowohl Fixierungen auf fehlende Körperteile, Spastiken, Lähmungen, orthopädische Hilfsmittel wie Rollstuhl oder Krücken und sehr selten auch Neigungen zu Menschen mit Sinnesbeeinträchtigungen. 

Männliche und weibliche Amelotatisten bezeichnen sich selbst häufig als Amelos beziehungsweise Amelinen. Die Mehrheit der Amelotatist:innen ist männlich, allerdings ist dieses Phänomen nicht auf Männer beschränkt.

Krankheit, sexueller Fetisch oder «normal»?

Nach medizinisch-psychologischer Definition ist Amelotatismus weder eine Krankheit noch ein sexueller Fetisch, da sich die Vorliebe nicht auf unbelebte Gegenstände richtet. Es werden nur Formen des Amelotatismus behandelt, bei denen sexuelle Fantasien zu dranghaften Verhaltensweisen führen, unter denen der Betroffene oder andere Personen leiden. 

Dies ist allerdings bei der Mehrzahl der Partnerschaften mit Amelotatisten nicht der Fall. «Wir haben so eine wunderbare Beziehung», sagt Barbara. Barbara ist oberschenkelamputiert und mit einem Amelo liiert. Zuvor war sie viele Jahre verheiratet – ebenfalls mit einem Amelo. Im Gegensatz zu ihrem jetzigen Mann hatte ihr erster Ehepartner seine Neigung verschwiegen. «Ich habe erst später erfahren, dass er Amelo ist. Er hat sich geschämt, darüber zu reden», erzählt Barbara. 

Bei ihrem jetzigen Mann ist das anders. Bereits in seiner ersten Antwort auf Barbaras Kontaktanzeige, teilte er Barbara mit, dass er sich von Frauen mit Behinderung angezogen fühlt. Nach einem Dreivierteljahr Mailfreundschaft trafen sich Barbara und ihr heutiger Mann zum ersten Mal und es hat sofort gefunkt. 

Barbara ist stolz, dass sie für ihren Mann die Schönste ist. «Diese Beziehung stärkt mein Selbstwertgefühl ungemein. Was aber nicht bedeutet, dass diese Beziehung die Grundlage meines Selbstwertgefühls ist», sagt Barbara.

Das Internet erleichtert den Austausch

Ihr Mann hat seine Neigung mit 17 Jahren bemerkt, als er eine amputierte Frau sah und Gefallen an ihr fand. «Das hat ihn schockiert», erzählt Barbara. Erst durch die Etablierung des Internets bemerkte Barbaras Mann, dass es mehrere Menschen mit seiner Neigung gibt und dass man sich über diese Neigung auch austauschen kann. Dies führte letztendlich dazu, dass er diesen Teil seines Wesens akzeptieren konnte, jedoch ohne die Hoffnung, diesen Wesenszug jemals ausleben zu können. 

Barbaras Mann ist Akademiker. «Viele Menschen mit dieser Neigung haben Abitur und ein abgeschlossenes Studium. Die einfacheren Menschen gehen nicht so tief in ihre Neigungen hinein», sagt Ilse Martin. Ilse Martin, die mit einer Dysmelie am linken Unterarm geborene wurde, verfasste ihre Diplomarbeit in Heil- und Sonderpädagogik zum Thema Mancophilie. Den Begriff Mancophilie hat Martin selbst geprägt. Er dient als Oberbegriff für besondere Zuneigungen zu Menschen mit körperlichen Einschränkungen, Mängeln und Defiziten. Der Begriff leitet sich aus dem lateinischen Wort «mancus» für behindert, gebrechlich, unvollständig, mangelhaft, schwach und dem griechischen Wort «philos» für Freund ab. 

Ilse Martin unterscheidet in ihrer Diplomarbeit, die auch als Buch erschienen ist, zwischen Mancophilen, die ihre Neigung als Fetisch ausleben und Menschen mit Behinderungen auf ihre Behinderung reduzieren und solchen, die sich zu Menschen mit Behinderungen hingezogen fühlen, aber nicht ausschliesslich die Besonderheit der Behinderung sehen, sondern den ganzen Menschen. 

«Ich möchte ganz geliebt werden», sagt Barbara: «Das bedeutet, dass zum Beispiel die Hand, die streichelt, nicht dort zu streicheln aufhört, wo mein Stumpf beginnt.» In ihrer Beziehung zu ihrem Mann bekommt sie, was sie möchte. «Ich fühle mich als ganzer Mensch wahrgenommen», erzählt Barbara.

Erste Reaktion: Schock

Barbara war zunächst geschockt, als sie erfuhr, dass es Menschen gibt, die Vorlieben für Menschen mit Behinderungen haben. «Zum einen gehen einem da die negativen Sachen durch den Kopf, von denen man schon gehört hat. Zum anderen stellt sich diese Tatsache zunächst als unfassbare Sache dar, dass jemand etwas, das so unperfekt ist, als schön empfinden kann», erklärt Barbara ihre damaligen Emotionen. 

Heute steht sie dieser Neigung anders gegenüber: «Wenn ich meine Behinderung als einen Teil von mir selbst liebe, dann kann auch jemand anders mich mit meiner Behinderung lieben», sagt Barbara. Aber wie unterscheidet man nun Amelotatisten, die den Menschen mit Behinderung als Ganzes sehen, von jenen, die sich nur an einer Behinderung «aufgeilen» wollen? 

«Diese Unterscheidung kann man nur lernen, wenn man sich damit beschäftigt. Wenn man sich in den Löwenkäfig reintraut», weiss Barbara. «Belästiger, die einen anglotzen und anmachen, sind natürlich sehr nervig. Denen muss man klipp und klar sagen, dass man nichts mit ihnen zu tun haben will. Man darf ihnen kein Hintertürchen offenlassen», rät Ilse Martin Menschen mit Behinderungen, die sich von Amelotatisten belästigt fühlen.

«Die schlimmen Finger fallen auf»

«Wenn man sich mit Amelotatisten beschäftigt, weiss man bald, woran man ist», sagt Barbara. «Wenn jemand schreibt: 'Hallo, ich bin so und so, was fehlt dir?', dann interessiert er sich nicht für dich, sondern nur für deine Behinderung», sagt Ilse Martin. 

Barbara ist überzeugt, dass es als Frau mit Behinderung nicht so leicht ist, einen Partner zu finden. «Wenn man Glück hat und den richtigen Partner findet, dann ist das eine Chance. Für mich ist es wichtig, diese Offenheit bei den Menschen zu erreichen», sagt Barbara. 

Ilse Martin will Menschen mit besonderer Zuneigung zu Menschen mit Behinderung «aus der Schmuddel-Ecke rausbringen». «Menschen, die nichts von Amelotatisten wissen, geben diesen Menschen oft keine Chance. Jene, die allerdings schon Erfahrung haben, sagen, viele Amelotatisten sind total ok», sagt Martin. Sie ist sich bewusst, dass es immer die «Bösen» sind, die auffallen, die für Unmut sorgen. «Diese schlimmen Finger machen allerdings nur einen geringen Prozentsatz aus», weiss Martin. 

Trotzdem ist es gerade dieser geringe Prozentsatz, der vielen Menschen mit Behinderungen Angst macht. Ob und wie weit Sie sich auf Amelotatisten einlassen, können Sie selbst entscheiden. Sagen Sie deutlich und ganz klar «nein», wenn Sie keinen Kontakt mit einem Amelotatisten möchten oder tasten Sie sich vorsichtig heran, wenn Sie neugierig geworden sind. Es liegt in Ihrem Ermessen. Sollten Sie Opfer von sexueller Belästigung geworden sein, sprechen Sie mit jemandem darüber und holen Sie sich Hilfe.


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