Neuer Therapieansatz bei Multipler Sklerose
Neuer Therapieansatz bei Multipler Sklerose
Immuntoleranz mit antigen-gekoppelten Blutzellen.
Einem Team von Forschern, Ärzten, Technikerinnen und Studienschwestern rund um Prof. Roland Martin am Institut für Neuroimmunologie und klinische Multiple-Sklerose-Forschung der Universität Hamburg hat ein neues Verfahren zur Frühbehandlung der Multiple Sklerose entwickelt und erfolgreich in einer ersten klinischen Studie an MS-Patienten geprüft.
Das Projekt wurde von Dr. Andreas Lutterotti im Rahmen eines Forschungsaufenthaltes (Alexander von Humboldt-Stipendium) am von der Gemeinnützigen Hertie-Stiftung mitgegründeten Institut von Prof. Martin in Hamburg initiiert und auch nach seiner Rückkehr an die Universitätsklinik für Neurologie Innsbruck vorangetrieben. Die Weiterentwicklung des Verfahrens und die Testung der klinischen Wirksamkeit in grösseren Patientenzahlen wird jetzt am Universitätsspital Zürich, an das Prof. Martin mit einem Teil seines Teams vor zwei Jahren gewechselt ist, in Zusammenarbeit mit der Universitätsklinik Innsbruck vorbereitet.
Autoreaktive T-Zellen spielen entscheidende Rolle
Die Multiple Sklerose (MS) ist eine chronische entzündliche Erkrankung des zentralen Nervensystems (ZNS). Aus Studien sowohl im Menschen als auch dem Tiermodell der MS weiss man, dass Immunzellen (T-Zellen), die gegen körpereigenes Gewebe gerichtet sind, sogenannte autoreaktive T-Zellen, eine entscheidende Rolle in der Auslösung, aber auch Erhaltung der Erkrankung einnehmen. Die derzeit zugelassenen Behandlungen der MS beeinflussen das Immunsystem jedoch nur unspezifisch, d.h. sie hemmen nicht ausschliesslich spezifische autoreaktive T-Zellen, sondern auch lebenswichtige, „gesunde“ Anteile der Immunantwort.
Idealerweise sollten sich Therapien spezifisch nur gegen jene Immunzellen richten, welche die Erkrankung auslösen. Ziel des neuen Verfahrens war es, bei MS-Patienten spezifisch Immuntoleranz in jenen T-Zellen zu induzieren, die gegen entscheidende Zielstrukturen im Gehirn und Rückenmark gerichtet ist.
Antigene werden an die Oberfläche der Zellen gekoppelt
Bei dem neu entwickelten Therapieansatz werden Blutzellen mit einem krankheitsauslösenden Selbstantigen in Anwesenheit einer Kopplungssubstanz inkubiert. Dadurch werden diese Antigene an die Oberfläche der Zellen gekoppelt. Die peptidgekoppelten Zellen werden dem Patienten am Tag der Behandlung zurückgegeben und leiten Prozesse ein, die die krankheitsverursachenden Immunmechanismen abschalten und eine Immuntoleranz gegenüber dem eigenen Hirngewebe wiederherstellen.
Immuntoleranz kann induziert werden
Im Tiermodell konnte durch umfangreiche Experimente in den letzten 30 Jahren insbesondere durch die Arbeitsgruppe von Prof. Stephen Miller an der Northwestern University in Chicago, der auch Ko-Autor der ETIMS-Studie ist, überzeugend gezeigt werden, dass durch dieses Verfahren Immuntoleranz induziert werden kann. Es gelang im Tiermodell der MS und anderer Autoimmunerkrankungen nicht nur den Ausbruch, sondern insbesondere auch das Fortschreiten der Erkrankung zu verhindern. Das Verfahren konnte im Tier auch erfolgreich die Abstoßung von Transplantaten verhindern und Allergien hemmen.
Für den erstmaligen Einsatz im Menschen wurde von dem Team um Prof Martin gemeinsam mit dem Hamburger Institut für Transfusionsmedizin (Dr. Andreas Sputtek) ein Herstellungsprozess etabliert, um das autologe Zellprodukt unter den von den regulatorischen Behörden geforderten Bedingungen herzustellen. Dabei werden Patienten weisse Blutkörperchen, sogenannte Leukozyten, über eine Leukozytapherese entnommen und in einem Reinlabor unter sehr hohen Sicherheitsauflagen verarbeitet.
Hierzu gehört die Kopplung mit sieben Myelinpeptiden, die in der MS eine wichtige Rolle als Zielantigene der Autoimmunreaktion spielen, mehrere Waschschritte und die Überprüfung auf Reinheit und Sterilität der Zellen, bevor diese dem Patienten am gleichen Tag zurückgegeben werden.
Therapie von Patienten gut vertragen
Die Therapie wurde in einer Phase-I-Studie (Etablierte Toleranz bei MS – ETIMS Studie) an neun MS-Patienten geprüft. Zusammenfassend wurde die Therapie von allen Patienten gut vertragen und es traten keine Sicherheitsbedenken auf. Erstmals konnte für dieses Verfahren im Menschen gezeigt werden, dass die spezifisch gegen Myelinantigene gerichtete Autoimmunreaktion bei Patienten mit MS reduziert wird.
Der Ansatz kann als Meilenstein auf dem Weg zu einer personalisierten Medizin bei MS betrachtet werden. Die Auswahl der Myelinpeptide beruht auf der Untersuchung individueller T-Zellantworten bei MS-Patienten über die letzten 20 Jahre durch das Labor von Prof. Martin. Da das Verfahren eine hohe Flexibilität bei den eingesetzten Antigenen ermöglicht, könnte die Therapie in Zukunft an das individuelle Spektrum autoaggressiver T-Zellen angepasst werden. (Hertie-Stiftung/MyHandicap/pg)