Zwangsstörungen – wenn Angst den Alltag bestimmt
Bei einer Zwangsstörung dominieren Ängste das eigene Leben und dies führt zu einem Teufelskreis, aus dem man oft nicht fliehen kann. Therapeutische Hilfe kann nichtsdestotrotz zu Besserungen führen.

Betroffene ziehen sich aus der Gesellschaft zurück und werden immer einsamer. (pixabay)
Stellen Sie sich eine ganz alltägliche Situation vor: Nach dem Aufstehen verrichten Sie Ihre Morgentoilette, Sie frühstücken, trinken einen Kaffee, rauchen eventuell eine Zigarette, bügeln ein Hemd für das Meeting um neun Uhr, ziehen sich an und machen sich auf den Weg zur Arbeit. Plötzlich schleichen sich Gedanken ein: Habe ich die Kaffeemaschine ausgeschaltet? Wo habe ich den Zigarettenstummel entsorgt? Habe ich das Bügeleisen vom Strom getrennt? Habe ich die Haustüre abgesperrt?
Sie sind unsicher und kehren nach Hause zurück und stellen fest, dass alles in Ordnung ist. Erleichtert machen Sie sich nun erneut auf den Weg zur Arbeit. Wenn es sich damit erledigt hat, ist das nicht weiter schlimm. Diese täglichen Unsicherheiten gegenüber Dingen, die wir mehr oder weniger automatisch tun, sind normal.
Zwang beherrscht Verhalten gegen den eigenen Willen
Anders verhält es sich, wenn die Unsicherheit anhält und sich ein Zwang einstellt, die gleichen Dinge immer und immer wieder zu kontrollieren. Um beim Beispiel zu bleiben: Man kehrt immer wieder nach Hause zurück, um zu kontrollieren und dies im Bewusstsein, dass es völlig unsinnig ist und man zu spät zum Meeting kommt. Der Zwang beherrscht also das Verhalten gegen den Willen der Betroffenen.
Erst, wenn diese Verhaltensweisen ein derartiges Ausmass annehmen, dass die Betroffenen darunter leiden oder deren Alltag stark beeinträchtigt ist, spricht man von einer krankhaften Zwangsstörung oder Zwangsneurose. Per Definition liegt eine Zwangsstörung vor, wenn Zwangsgedanken und -handlungen mindestens zwei Wochen lang an den meisten Tagen bestehen.
Unsicherheit und Angst
Hinter den meisten Zwangshandlungen steht die fixe Idee, dass dadurch etwas Gefährliches verhindert werden soll. Wenn die Handlungen nicht immer und immer wieder ausgeführt werden können, entsteht ein Gefühl von Unsicherheit, Angst oder Ekel. Durch die wiederholte Ausführung der Zwangshandlungen werden diese Gefühle verringert.
Die in der Öffentlichkeit vielleicht bekannteste Zwangshandlung ist das Waschen und Reinigen. Menschen, die unter einem solchen Zwang leiden, haben panische Angst vor Bakterien und Schmutz, ihr Alltag ist durch Taten und Gedanken rund um Reinlichkeit bestimmt. Betroffene lassen keinen Besuch mehr in die eigenen vier Wände, um Schmutz zu vermeiden. Bei der kleinsten Unreinheit wird das ganze Eigenheim gründlichst gereinigt. Menschen mit einer entsprechenden Zwangsstörung geben niemandem mehr die Hand und wenn es sich nicht verhindern lässt, werden die Hände anschliessend wieder und wieder gewaschen – bis sie bluten.
Von der Handlung zum Ritual
Aus Zwangshandlungen können auch Zwangsrituale werden. Die Handlungen werden in einer bis ins kleinste Detail ausgearbeiteten Art und Weise ausgeführt. Die Betroffenen müssen das Ritual jedes Mal in exakt derselben Weise, nach bestimmten, sorgfältig zu beachtenden Regeln durchlaufen. Kann die Handlung nicht abgeschlossen werden, entsteht weitere Angst, und das Ritual muss häufig von Anfang an wiederholt werden.
Ängste dominieren das Leben
Zwangsgedanken wiederum sind Gedanken, Bilder oder Impulse, die sich immer wieder aufdrängen. Betroffene empfinden solche Ideen als extrem besorgniserregend. Am häufigsten finden sich Zwangsvorstellungen, die sich um Unfälle, Erkrankungen, Katastrophen oder Gewalttaten drehen und die insbesondere nahestehende Personen bedrohen sollen.
Ängste dominieren das Leben, denn den zwanghaften Gedanken sind kaum Grenzen gesetzt. Sie können sich auch auf sexuelle Inhalte beziehen, auf religiöse und moralische Fragen oder auf alles, was das Thema Ordentlichkeit betrifft.
Zahlreiche Begleitsymptome
Begleitende Symptome zu den Zwangshandlungen oder Zwangsgedanken sind oftmals eine allgemeine Nervosität der Betroffenen, ein stets beunruhigtes Verhalten, depressive Verstimmungen und ein reduziertes Selbstwertgefühl. Erschöpfungssymptome sind ebenfalls häufig, denn der stetige Kampf gegen den Zwang – ob erfolgreich oder nicht – kostet ungeheure Kraft.
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Ein Teufelskreis
Die Betroffenen befinden sich in einem Teufelskreis. Sie erleben Zwangsgedanken, die für sie nicht erträglich sind und ihnen Angst machen. Bekämpft oder reagiert auf die Zwangsgedanken wird mit Zwangshandlungen, die wiederum die ausgelösten Befürchtungen am Leben erhalten. Bei neunzig Prozent der Betroffenen kommen denn auch sowohl Zwangsgedanken als auch Zwangshandlungen vor.
Hunderttausende Betroffene
Bis Mitte der neunziger Jahre des 20. Jahrhunderts waren Zwangserkrankungen noch relativ unbekannt. Dadurch entstand bei den Betroffenen das Gefühl, mit ihrer Erkrankung alleine zu sein. Dies erhöhte die Suizidgefahr und minimierte die Chance, sich in therapeutische Behandlung zu geben.
Heute weiss man, dass Zwangserkrankungen weiter verbreitet sind, als früher angenommen. Die Dunkelziffer ist hoch, weil sich Betroffene ihrer Störung schämen und sie möglichst lang verbergen. Es dauert oft viele Jahre, bis eine korrekte Diagnose gestellt und eine angemessene Therapie eingeleitet werden kann. Fachleute gehen davon aus, dass in Deutschland bis zu 1,5 Millionen Menschen und in der Schweiz um die 100‘000 Menschen betroffen sind.
Die Zwangsstörung ist nach den Phobien, der Depression und den Suchterkrankungen die vierthäufigste psychische Störung. Zirka zwanzig Prozent der Patientinnen und Patienten sind bereits in der Kindheit davon betroffen. Bei den meisten Betroffenen beginnt die Störung aber im frühen Erwachsenenalter.
Verschiedene Faktoren verantwortlich
Wie eine Zwangserkrankung entsteht, ist trotz bemerkenswerter Fortschritte und Erkenntnisse in der Forschung noch nicht völlig geklärt. Die meisten Experten gehen davon aus, dass das Zusammenwirken verschiedener Faktoren für die Krankheit verantwortlich ist.
Häufiger Auslöser von Zwangsstörungen scheint das Zusammentreffen einer vorhandenen psychischen Verletzlichkeit, zum Beispiel aufgrund von früheren belastenden Lebensereignissen, und einer akuten psychischen Überlastung zu sein, wie die Schweizerische Gesellschaft für Zwangsstörungen schreibt. Untersuchungen von Familien und Zwillingsstudien haben wiederum gezeigt, dass auch die Gene verantwortlich sein können. Gemäss zahlreicher Studien spielt der Hirnstoffwechsel eine Rolle, da die Impulsübertragung im Gehirn von Erkrankten gestört ist.
Frühe Behandlung
Je früher mit der Behandlung einer Zwangsstörung begonnen wird, desto besser sind die Prognosen. Es gibt heute Hilfen, um eine deutliche und dauerhafte Linderung der Symptome zu erreichen. Um eine Zwangsstörung erfolgreich zu therapieren, hat es sich als sinnvoll erwiesen, eine Kombination aus medikamentöser und psychologischer Behandlung anzuwenden.
Im Bereich der Psychotherapie sind sowohl im ambulanten als auch im stationären Bereich verhaltenstherapeutische Methoden entwickelt worden. Auch die medikamentösen Möglichkeiten sind deutlich besser als früher.

Hirnschrittmacher bringt Linderung
Seit mehreren Jahren kann bei Zwangsstörungen auch ein Hirnschrittmacher eine Linderung des Problems bringen. Bei der Methode implantieren Ärzte Elektroden in das Gehirn, die bestimmte Hirnbereiche elektrisch reizen sollen. Ziel der Therapie ist es, einen aus dem Tritt geratenen Regelkreislauf im Gehirn zu normalisieren und damit die kognitiven, emotionalen und motorischen Prozesse zu stabilisieren.
Allerdings sei der Schrittmacher kein Heilmittel, betont Benjamin Greenberg von der Brown University in Providence, der den aktuellen Stand der Forschung auf dem Jahrestreffen der American Association for the Advancement of Science (AAAS) vorstellte: Die Zwänge verschwinden nicht, sondern werden lediglich soweit gedämpft, sodass die Betroffenen eine Chance bekommen, ihren Alltag einigermassen zu meistern.
Was genau die Stimulation im Gehirn verändert, wisse man zudem noch nicht. Wunder sollte man sich also nicht erhoffen: «Die Tiefenhirnstimulation macht aus schwerstkranken Patienten lediglich durchschnittliche Patienten», zitiert SPIEGEL ONLINE den Wissenschaftler.