«Ich dachte, ich sei allein»: Eine ehemalige Young Carerin erzählt
Mein Name ist Natasha, ich bin mittlerweile in meinen 20ern, aufgewachsen bin ich im Kanton Zürich, wo ich momentan auch an der Uni studiere. Meine freien Minuten verbringe ich gerne beim Joggen in der wunderschönen Landschaft des Zürichseeufers, erkunde neue Restaurants in Zürich mit meinen Freunden oder plane meine nächste Reise ins Unbekannte.

Natasha wurde mit 8 ein Young Carer. Heute schaut sie auf diese Zeit zurück. (Privataufnahme)
Mit 8 Jahren wurde ich zur Young Carer, als meine Mutter unter anderem an Depression, PTBS sowie Zwangsstörung erkrankte. Als ich 11 Jahre alt war, erhielt sie die Diagnose Krebs. Mit den unterschiedlichen Diagnosen veränderte sich nicht nur das Leben meiner Mutter, sondern auch das Leben der gesamten Familie. Kurz gefasst, ich musste teilweise in die Rolle meiner Mutter schlüpfen. Spontan mit Freunden abmachen gab es selten, da meine Schwester und ich unsere Hausaufgaben machen und uns um Mahlzeiten kümmern mussten. Mit der psychischen Besserung meiner Mutter musste ich weniger Aufgaben übernehmen, es gab auch Zeiten, in denen mein Leben fast «normal» war. Dennoch muss ich sagen, dass weniger Aufgaben für mich sowohl eine Erleichterung als auch einen Identitätsverlust darstellen.
Anfänglich war mir gar nicht bewusst, dass andere Kinder nicht dieselben Aufgaben erledigen mussten und ich war davon überzeugt, es sei normal, was ich durchlebe. Allmählich habe ich bemerkt, dass es nicht «normal» ist, als Kind Aufgaben, die Erwachsene erledigen, zu übernehmen. Mit 20 bin ich zufälligerweise im Internet über den Begriff Young Carer gestolpert. Dabei war ich überrascht, dass alleine in der Schweiz über 50’000 andere junge Personen existieren, die auch im Alltag eine nahestehende Person unterstützen. Denn über die gesamten 12 Jahre als Young Carer war ich fest davon überzeugt, dass ich alleine mit diesen Erfahrungen bin.
Was ist ein Young Carer?
Ein Young Carer (YC) ist ein Kind oder eine jugendliche Person, die ein Familienmitglied mit einer Krankheit oder Behinderung regelmässig unterstützt. Diese Unterstützung kann Aufgaben im Haushalt, emotionale Hilfe oder auch Pflege beinhalten. Young Carers tragen oft eine grosse Verantwortung neben Schule und Freizeit, was sie emotional und körperlich belasten kann. Ihre Situation bleibt oft unbemerkt, da sie selten darüber sprechen.
Durch die schwere Zeit half mir meine Familie. Auch wenn es eine schwere Zeit für uns war, versuche ich auch die positiven Seiten zu erkennen. Ich habe in dieser Zeit viel über Empathie, Verantwortung sowie Durchhaltevermögen gelernt. Daneben habe ich gelernt, mit schwierigen Situationen umzugehen und früh Selbständigkeit zu entwickeln. Kompetenzen, die in jeglichen Lebensabschnitten sowie Bereichen unglaublich viel helfen sowie wertvoll sind. Und ich bin mir nicht sicher, ob meine Familie ohne diese schweren Erlebnisse einen solch engen Zusammenhalt hätte.
Aber auch die Unterstützung meiner Freunde, auch wenn sie nichts von meiner Situation wussten, haben mir ein Stück Unbeschwertheit gegeben. Daneben hat mir die professionelle Beratung meiner Psychologin geholfen, die Situation zu verarbeiten. Hinzu hat mir das Ausüben meiner Hobbys geholfen, einen Ausgleich im Alltag zu finden, einen Rückzugsort, an dem ich mal abschalten konnte.
Diskussionen in der Community
Mittlerweile bin ich eine ehemalige Young Carerin und gehe hin und wieder an Get-togethers des Schweizerischen Roten Kreuzes. Auch wenn meine Young Carer-Zeit vorbei ist, tun mir die Get-togethers unglaublich gut. Davor hatte ich keine Möglichkeit mich mit anderen YC auszutauschen, oft sind die Gefühle, die man durchlebt, dieselben, auch wenn sich die Situationen (Krankheiten, Familienkonstellationen, Lebensabschnitte, etc.) unterscheiden. Ich hatte vor meinem ersten Get-together im Frühjahr 2024 bereits vieles davon über die Jahre selbst sowie mit professioneller Unterstützung verarbeitet, und dennoch hat der Austausch mit anderen bis heute eine katharische (selbstheilende) Wirkung. Ich denke, die Get-togethers hätten für mich vor 10 Jahren, also während meiner YC-Zeit, viel Bereicherung sowie Unterstützung, aber auch Know-How weitergeben können. Was ich zudem auch schätze ist, dass man auch als junge Person ernst genommen wird.
Mir liegt das Thema am Herzen. Ich engagiere mich als Peer-Helferin bei EnableMe für andere YC. Ich wirke auch bei Medienkampagnen über YC z.B. bei Tagungen/Weiterbildung/Konferenzen als Sprachrohr mit. Ich habe auch mein eigenes Projekt Caring4YoungCarers als Teil der WEF Global Shapers in diesem Jahr gegründet. Wir halten Workshops an Schulen für die Lehrpersonen, denn pro Schulklasse gibt es 2-3 YC. Ich erhoffe mir hierdurch, mehr Verständnis für die Situation der YC durch einen offenen Dialog sowie Weiterbildungs-Sessions zu erzielen. Das gesamtheitliche Ziel ist es, den Dialog über YC zu fördern und die Aufmerksamkeit der Gesellschaft auf das Thema zu lenken. Ich hoffe, dadurch einen Beitrag zu leisten, damit Young Carers die Anerkennung sowie Hilfe erhalten, die sie verdienen.
Falls du selbst betroffen bist: Habe den Mut, darüber zu sprechen. Und falls du Fragen hast, erreichst du mich gerne in der Community oder unter peer@enableme.ch für einen Austausch.