Epilepsie am Arbeitsplatz: verstehen, einbeziehen, unterstützen
Epilepsie am Arbeitsplatz ist nach wie vor von vielen Vorurteilen umgeben, die die Inklusion der Betroffenen einschränken. Wie wirkt sich die Krankheit auf den Arbeitsalltag aus? Welche konkreten Lösungen können Arbeitgeber finden?

Die Sensibilisierung der Arbeitgeber ist entscheidend für die Inklusion von Menschen mit Epilepsie. (pexels)
Mélanie Volluz Freymond, Sozialberaterin bei Epi-Suisse, ist Expertin für Epilepsie. Sie unterstützt Betroffene, stellt ihnen Hilfsmittel zur Verfügung und berät sie, um ihre Autonomie und Lebensqualität zu steigern. In diesem Artikel beleuchtet sie die Herausforderungen, denen Menschen mit Epilepsie im beruflichen Umfeld begegnen und schlägt konkrete Lösungen zur Förderung von Inklusion im Unternehmen vor.
Epilepsie und ihre Herausforderungen in der Arbeitswelt
Man spricht von Epilepsien, weil die Medizin mehr als 30 verschiedene Arten von Epilepsie kennt. Dabei handelt es sich um Erkrankungen, die zu wiederkehrenden Anfällen führen. Ein epileptischer Anfall ist eine zeitlich begrenzte Fehlfunktion von Neuronen im Gehirn. Während eines Anfalls kommt es zu elektrischen Entladungen zwischen Millionen von Neuronen im Gehirn, die diese dazu veranlassen, unkontrolliert «Befehle» an den Körper zu übermitteln, die sich bei der betroffenen Person in einem Anfall äussern.
Je nachdem, welche Neuronen beteiligt sind und welche Funktionen sie steuern, äussert sich ein Anfall unterschiedlich. Manche Menschen erleiden einen tonisch-klonischen Anfall, der Krämpfe auslöst. Bei anderen äussert sich der Anfall durch ein einfaches Zucken oder Bewegen eines Körperteils (Arm, Augenlid, Kiefer usw.). Der Anfall kann sich aber auch in einer vorübergehenden Abwesenheit (Bewusstseinsstörung) bemerkbar machen.
Epileptische Anfälle können jeden in jedem Alter treffen. Sie bedürfen einer Behandlung und eines gesunden Lebensstils, um ihr Auftreten zu begrenzen.
Die Auswirkungen von Epilepsie im Alltag sind vielfältig. Von der Angst vor einem Anfall über die Nebenwirkungen der Behandlung bis hin zu den Zwängen eines strikten Lebensstils - Patient:innen müssen sich mit vielen neuen Faktoren auseinandersetzen. Nicht selten treten Stress, Angstzustände oder Depressionen auf.
Hinzu kommen die Sorge oder Überfürsorge der Angehörigen, Isolation (Angst vor einem Anfall in der Öffentlichkeit), vorübergehende oder dauerhafte Einschränkungen (nicht empfohlene oder verbotene Aktivitäten, Verlust des Führerscheins) und sogar sozioökonomische Auswirkungen, vor allem, wenn der Arbeitsplatz betroffen ist.
Dabei ist zu beachten, dass die Situation je nach Epilepsietyp und Lebensweise sehr unterschiedlich ist: Ein Kind mit abwesenden Anfällen hat im Alltag andere Auswirkungen als eine Mutter mit tonisch-klonischen Anfällen.
Diskussionen in der Community
Zwei Drittel aller Menschen mit Epilepsie haben keine Anfälle mehr. Dennoch stehen sie vor der Herausforderung, über ihre Epilepsie zu sprechen, ohne Vorurteilen ausgesetzt zu sein und auf Verständnis für die Nebenwirkungen der Behandlung zu stossen.
Die Behandlung von Epilepsie hat häufig erhebliche Nebenwirkungen auf das tägliche Leben: Müdigkeit, Gedächtnisstörungen und Konzentrationsschwierigkeiten. Das Wort Epilepsie wird oft als beunruhigend empfunden. Die meisten Menschen denken bei diesem Begriff sofort an einen tonisch-klonischen Anfall.
Für Menschen mit aktiver Epilepsie kommt zu diesen Herausforderungen noch hinzu, dass sie sich bei einem Anfall den Blicken anderer stellen müssen. Und einen Arbeitgeber finden, der bereit ist, sie trotz dieser Diagnose einzustellen. Es kommt auch vor, dass der Arbeitgeber wissentlich eine Person mit Epilepsie einstellt, sie aber nach dem ersten Anfall am Arbeitsplatz wieder entlässt.
Diskriminierung und Stigmatisierung am Arbeitsplatz
Das grösste Risiko im Zusammenhang mit Epilepsie ist die Ausgrenzung, sei es im Betrieb, in der Schule oder im Privatleben. Diskriminierungen behindern die Betroffenen noch stärker als die Krankheit selbst. Wer an Epilepsie leidet, sieht sich also mit einer Diagnose und einer damit verbundenen Diskriminierung konfrontiert. Dies hat schwerwiegende Folgen, insbesondere für die Akzeptanz der Krankheit.
In Unternehmen beginnt die Diskriminierung bereits bei der Einstellung: Angst vor einem Anfall am Arbeitsplatz oder das Vorurteil, dass der/die Arbeitnehmer/in weniger kompetent sind. Eine arbeitssuchende Person, die ihre Epilepsie angibt, hat geringere Chancen, eingestellt zu werden.
Nach der Einstellung berichten Betroffene immer wieder von Vorurteilen: ihnen wird beispielsweise unterstellt, Nebenwirkungen der Medikamente oder sogar Anfälle – insbesondere bei Absenzen – nur vorzutäuschen. Zudem halten sich hartnäckige Mythen über Risiken bei Anfällen, wie etwa die falsche Annahme, man könne die Zunge verschlucken. Diese Vorurteile führen zu Diskriminierungen, wie der Ausgrenzung oder Belästigung der betroffenen Personen am Arbeitsplatz.
Kommt es am Arbeitsplatz zu einem Anfall, kündigt der Arbeitgeber den Betroffenen unter verschiedenen Vorwänden: Der Anfall hat die Mitarbeitenden oder die Kundschaft verängstigt, der Arbeitnehmer ist nicht in der Lage, seine Pflichten zu erfüllen, seine Abwesenheiten sind problematisch. Manchmal empfiehlt der Arbeitgeber, sich an die Invalidenversicherung zu wenden, diese Empfehlung ist jedoch nicht immer gerechtfertigt.
Wahrscheinlich nicht und zum Teil ist das auch normal. Es gibt viele verschiedene Krankheiten, die Arbeitgeber nicht alle kennen können. Wir sind jedoch der Meinung, dass es deren Pflicht ist, sich bei der Bekanntgabe einer chronischen Krankheit zu informieren, um jegliche Form von Diskriminierung zu vermeiden. Bei Epi-Suisse bieten wir verschiedene Hilfsmittel an, um Arbeitgeber und ihre Teams in solchen Situationen zu unterstützen.
Lösungen für eine bessere Inklusion
- Sensibilisierung und Schulung von Mitarbeitenden
Information ist das A und O: Was man nicht weiss, macht Angst. Je mehr Informationen Unternehmen über Epilepsie haben, desto weniger Raum bleibt für Vorurteile. Bei Epi-Suisse stellen wir Informationsmaterial für Arbeitgeber bereit. Auch haben wir ein Aufklärungsprogramm für Unternehmen. In ein oder zwei Stunden können wir eine bessere Inklusion erreichen, indem wir ein Verständnis dafür schaffen, was Epilepsie wirklich ist.
Sowohl Menschen mit Epilepsie als auch ihre Kolleg:innen und Arbeitgeber:innen berichten uns von einer grossen Erleichterung nach diesem Aufklärungsprogramm. Viele Ängste werden abgebaut, die Kolleg:innen sind beruhigt und wissen, wie sie sich im Falle eines Anfalls verhalten müssen und die betroffenen Arbeitnehmer:innen fühlen sich besser verstanden und wohler. Das bedeutet auch eine bessere Stimmung, mehr Effizienz und manchmal weniger Absenzen. Die erste Massnahme ist jedoch die Einstellung: Wenn ein zukünftiger Arbeitnehmer oder eine zukünftige Arbeitnehmerin eine Epilepsie meldet, sollte dies seine/ihre Chancen auf einen Job nicht schmälern.
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Anpassung der Arbeitsbedingungen
Es ist üblich, dass Menschen mit Epilepsie besondere Anforderungen an ihren Arbeitsrhythmus haben. Die Nebenwirkungen der Behandlung und die Auswirkungen der Anfälle können manchmal zu erhöhter Müdigkeit oder verminderter Konzentration führen. Der Arbeitgeber kann den Arbeitsplatz so umgestalten, dass er den Bedürfnissen der Betroffenen entspricht, damit diese ihre Aufgaben erledigen können. Hier einige Beispiele für mögliche Anpassungen:
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Flexible Arbeitszeiten entsprechend den Bedürfnissen des Arbeitnehmers/der Arbeitnehmerin (z. B. späterer Beginn am Morgen und regelmässige Pausen)
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Homeoffice ermöglichen
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den Arbeitsplatz für den Krisenfall sichern (geeignete Möbel)
Es ist wichtig, dass sich der/die Arbeitnehmer/in an seinem/ihrem Arbeitsplatz in jeder Hinsicht sicher fühlt, was sowohl für ihn/sie als auch für den Arbeitgeber von Vorteil ist. Zudem kann Stress bei manchen Betroffenen Anfälle begünstigen. In diesem Fall ist es für die Prävention wichtig, dass der Arbeitnehmer ohne Angst mit seinem Arbeitgeber und seinen Kollegen darüber sprechen kann.
In der Schweiz gibt es keine Verpflichtung für Unternehmen, Menschen mit einer Behinderung oder chronischen Krankheit einzustellen. Einige Institutionen bemühen sich um die Eingliederung von Menschen mit Epilepsie in die Arbeitswelt, indem sie die Unternehmen sensibilisieren, aber das reicht nicht aus.
Die Dachverbände der Behinderten- und Gesundheitsorganisationen schlagen zahlreiche Möglichkeiten vor, um mehr Inklusion zu erreichen: Quotenregelungen, finanzielle Unterstützung, Stellen für Integrationsbeauftragte in grossen Unternehmen sind nur einige Beispiele. Wir teilen diese Ideen, denn auf ein rein freiwilliges System zu setzen, ist nicht zielführend. Die Unternehmen müssen stark unterstützt werden und die Inklusion sollte verpflichtend sein.
Ja, wir haben in mehreren Unternehmen gearbeitet und alle sagen, dass sie sehr positiv von unserer Sensibilisierung für Epilepsie profitiert haben. Ich möchte hier die Worte von Maeva Bordiu, Assistentin der Geschäftsführung bei Alterimo Sàrl, zitieren.
«Es handelt sich um ein Thema, an das wir nicht unbedingt denken, bevor wir damit konfrontiert werden und Ihr Beitrag hat es jedem ermöglicht, sich über die richtigen und falschen Handlungen während eines Anfalls zu informieren. Wir konnten feststellen, dass einige Mythen immer noch tief verwurzelt sind (z. B. dass eine Personiwährend eines Anfalls ihre Zunge verschlucken könnte) und dass diese zu gefährlichen und nicht der Situation angepassten Reaktionen und Reflexen führen können. Wir sind uns auch der Auswirkungen bewusst, die diese Störung auf den Alltag von Epilepsiepatient:innen haben kann und zwar auf allen Ebenen: finanziell, beruflich, sozial etc. Persönlich bin ich beruhigt zu wissen, dass mein berufliches Umfeld über die Krankheit informiert und geschult ist. Es war schön zu sehen, dass das Thema Gesundheit am Arbeitsplatz sowohl für die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter als auch für die Geschäftsleitung wichtig ist.»
Epilepsie ist zwar weit verbreitet, wird aber immer noch unterschätzt. Menschen mit Epilepsie müssen nicht nur mit den Anfällen, den Nebenwirkungen der Behandlung und den Einschränkungen ihres Lebensstils zurechtkommen, sondern auch mit den Blicken anderer, die oft von Vorurteilen und Ängsten geprägt sind.
Die Sensibilisierung von Arbeitgebern und Kollegen führt zu einem besseren Verständnis für diese chronische Krankheit. Darüber hinaus kann eine Anpassung des Arbeitsplatzes in Verbindung mit einer wohlwollenden und offenen Haltung zu einem ruhigen Arbeitsklima führen, in dem sich die Fähigkeiten jedes Einzelnen entfalten können. Zögern Sie nicht, sich an Epi-Suisse zu wenden, um weitere Informationen zur Sensibilisierung am Arbeitsplatz zu erhalten.
Wir danken Mélanie Volluz Freymond herzlich für das Interview. Mélanie Volluz Freymond ist Sozialberaterin bei Epi-Suisse und engagiert sich im Forum als Fachperson.